Da gibt es nichts zu verstehen!

26. August 2021

Statt diplomatischem Blabla und geopolitischem Mansplaining, wünscht sich Chefredakteurin Delna Antia-Tatić nur eines: Dass die Regierenden in entscheidenden Situationen „richtig“ von „falsch“ unterscheiden – und auch danach handeln.

Kommentar von Delna Antia-Tatić

Foto: Zoe Opratko
Foto: Zoe Opratko

Dieser Tage habe ich schon wieder diese Vorstellung. Obwohl „Bedürfnis“ wohl das bessere Wort ist. Ich hatte es schon öfter, zum Beispiel im Winter 2020. Dabei stelle ich mir vor, wie ich am Ballhausplatz all die mächtigen Minister, Männer und Hintergrundstrippenzieher auftreffe und Auge in Auge zusammenschreie. Das erledige ich als Chefredakteurin von biber, als Frau und als Bürgerin dieses Landes. Denn irgendwo ist Schluss. Ich bin wütend und frage: Gibt es denn gar keine Grenzen in eurer Politik voller Grenzziehungen?

Aber eigentlich will ich es gar nicht mehr verstehen. Was gibt es da auch zu verstehen? Wer die besondere Macht innehat, Menschen in akuter Lebensbedrohung zu helfen, wer Kinder in Not retten kann, es aber aus Karrieregründen nicht tut, ist nicht zu verstehen. Das möchte ich loswerden: Da gibt es nichts mehr zu verstehen! Kein diplomatisches Blabla, keine politstrategischen Floskeln, kein noch so einstudiertes Mansplaining der Welt kann mir das erläutern. Ich will weder in die Komplexität der Geopolitik eingeführt werden noch innenpolitische Relativierungen hören. Ich will kein „Nehammern“ oder „Schallenbergen“, wie Presse-Chefredakteur Rainer Nowak den neuen ÖVP-Politstil tragisch-komisch beschreibt: Also etwas völlig Unrealistisches posaunen, nur um dadurch hart und kompromisslos zu wirken. Wahrlich, ich will keine harten Männer, die die Taliban zur Räson rufen und der Flüchtlingskonvention den Kampf erklären. Nein, ich will das Gegenteil. Ich will, dass die, die oben stehen und eine große Handlungsmacht besitzen, in entscheidenden Situationen „richtig“ von „falsch“ unterscheiden können – und auch danach handeln. Es war falsch, kein einziges Kind aus den griechischen Flüchtlingslagern vor dem Winter 20/21 nach Österreich zu holen. Es ist falsch, nach Afghanistan abzuschieben. Es ist schmerzlich falsch, von „Abschieben so lange es geht“ zu sprechen, ja Charterflüge zu organisieren, während die Taliban die Hauptstadt einnehmen und es darum geht, Menschen außer Landes zu bringen – und nicht hinein. Jenseits von Gut und Böse erscheint es, Menschen in purer Lebensangst zu verhöhnen, die sich aus Verzweiflung an abhebende Flugzeuge klammern. Denn nichts anderes als Hohn war der Sager des Innenministers: „Es gibt keinen Grund, warum ein Afghane jetzt nach Österreich kommen sollte.“ – Und was die Aufnahmedebatte angeht: Natürlich ist es berechtigt zu betonen, dass Österreich „nicht alle retten kann“ und bereits überproportional viele Menschen in der Vergangenheit aufgenommen hat. Aber hey, das war doch richtig, gut gemacht! Wenn jetzt Gemeinden melden, sie haben Platz, warum nicht weiter so – warum nicht drüber reden? Statt als Hardliner jegliche Diskussion im Keim wegen der „Signalpolitik“ zu ersticken.

Ich will, dass die, die oben stehen und eine große Handlungsmacht besitzen, in entscheidenden Situationen „richtig“ von „falsch“ unterscheiden können – und auch danach handeln.

Wer Macht zum Handeln besitzt, sie aber nicht nutzt aus Angst, sie zu verlieren, ist für mich ohnmächtig. Wer nur Machterhalt im Sinn hat, ist getrieben und seiner Macht nicht würdig. Das gilt für Türkis und ja auch für Grün – denn Unterlassung ist auch eine Handlung. Manch ein Türkiser mag ja wahrlich inhaltlich überzeugt sein, von dem was er sagt und tut. Das kann ich dann wahlweise hässlich, rassistisch, fremdenfeindlich und/oder dumm finden, aber bei manchen bezweifle ich es. Da erscheinen die Mantras von „Balkanroute schließen“ oder „nach Afghanistan abschieben“ bloß als berechnetes Kalkül, das unter Druck der politischen Seilschaften roboterhaft wiederholt wird. Und die Grünen? Nun, ob Birgit Hebeins Austritt aus der grünen Partei ein individueller Einzelfall bleibt, weil deren Politik „nicht mehr ihr Herz erreiche“, stellt auch Politologe Peter Filzmayer auf ORF.at zur Debatte. Parteien seien immerhin auch Gesinnungsgemeinschaften, von denen wir uns moralisch-ethische Grundwerte erwarten. Bloß, welche Grundwerte sollen das sein, wenn die einzig erstrebenswerte Gesinnung österreichischer Politiker immer blau gefärbter wird? Um Filzmaier zu zitieren: „Was hätten FPÖ-Politiker zum Thema Afghanistan sagen sollen, was nicht Kurz, Nehammer und Schallenberg sowieso gesagt haben?“ Hier habe Türkis das Blau in die Regierung einfach mitgenommen – und die Grünen hätten sich eben damit arrangiert, so der Politologe. Und die Roten? Nun, von Herrn Doskozil will ich gar nicht erst anfangen.

Warum nicht eine Politik verfolgen, zu der man aufschaut, statt sich eine anzueignen, die auf andere herabsieht?

Diese politische Entwicklung mag im journalistischen Fachjargon „besorgniserregend“ sein. Im echten Leben sieht meine erregte Besorgnis so aus, dass ich den Beteiligten, fern von journalistischer Distanz, meine menschliche Enttäuschung vor die Füße kippen möchte: Ist es wirklich so erstrebenswert fürs Ego von ausländerfeindlichen und provinziellen Rechten gewählt zu werden? Warum nicht eine Politik verfolgen, zu der man aufschaut, statt sich eine anzueignen, die auf andere herabsieht? Wer so viel Macht und ja auch Begabung besitzt, warum nicht die konservative Anhängerschaft mal Merkel-mäßig mit Offenheit und Mitmenschlichkeit inspirieren – statt um die Stammtischler mit den braunen Hirnen zu wetteifern? Es ist nicht geil, herzlos zu sein! Es ist beschämend.

"Es ist nicht geil, herzlos zu sein!" 

Ich bin meinen deutschen Journalistenkolleg:innen dieser Tage daher wirklich dankbar. So fragte ZDF-Top-Moderatorin Marietta Slomka im heute-Journal den deutschen Außenminister gerade heraus: „Schämen Sie sich?“ Und auch Tagesthemen-Moderator Ingo Zamperoni ließ den CDU-Kanzlerkandidaten nicht davonkommen: „Habe ich das richtig verstanden, da klammern sich verzweifelte Menschen an startende Flugzeuge und ihre größte Sorge ist, dass sich 2015 wiederholt?“ Der Journalist wirft Armin Laschet geradeheraus vor, dass der Blick auf das Innenpolitische wichtiger scheine als die Rettungsaktion. Trotzdem sind Deutschland und Österreich noch zwei Paar politische Schuhe – immerhin hat die deutsche Regierung die Abschiebungen pausiert und nicht wie Österreich angekündigt, die Europäische Menschenrechtskonvention auf Teufel-komm-raus umgehen zu wollen. Auch andere Vergleiche zeigen das. So hat etwa der rechts-rechte AFD-Fraktionschef Alexander Gauland in Deutschland gefordert, dass afghanisches Personal ausgeflogen und aufgenommen werden solle, wenn es in den Diensten der Deutschen tätig war. Falter-Herausgeber Armin Thurnher schreibt dazu: „Gauland! Das ist, als hätte Herbert Kickl Asyl für verfolgte Afghanen gefordert. Die deutsche Rechte, unter Beobachtung des Verfassungsschutzes, überholt Österreichs türkise Partie links. Welche Schande!“ Ja, welch Schande. Aber Scham und Gewissen bieten den Aktionen hiesiger Regierungspolitiker wohl längst keinen Einhalt mehr. Selbst die brutalste Realität kann sie nicht stoppen und der Europäische Gerichtshof schon gar nicht. Während andere Staaten wenigstens einen Rettungsmodus hochfahren, sind österreichische Minister damit beschäftigt, Ausreisezentren zu diskutieren und Schubhäftlinge außer Landes bringen.

Mir bekommt diese Politik nicht. Ich kann die Fremdscham darüber nicht mehr außerhalb meiner Vierwände halten, ich merke, sie kriecht hinein. Immer dann, wenn ich nicht wütend bin, sondern abgestumpft. Dabei schäme ich mich vor den Menschen, die nicht das angeborene Glück des freien Lebens haben, die nicht wie ich in Deutschland zur Welt kamen und als freie Europäerin ein Leben im schönen Österreich aufbauen durften – ohne Erlaubnis anzusuchen. Allein die Vorstellung in diesen Minuten eine Frau in Afghanistan zu sein, eine Journalistin womöglich, oder dass ich mein Mädchen, das ich gerade schwanger in meinem Bauch trage, dort auf die Welt bringen zu müssen, überschreitet mein Fassungsvermögen. „Meinem“ Geschlecht droht nicht nur der Tod, sondern ein Auslöschen darüber hinaus: Die totale Entwürdigung und Entwertung als Frau, keine Bildung, weil man ein Mädchen ist. Und die Welt schaut zu und Österreich schiebt ab. Wie zynisch erscheinen mir daher dieser Tage die österreichischen „Wertekurse“. Welche Werte werden uns von oben denn gerade beigebracht? Ein Lichtblick ist da Wien, die Stadt, in der ich seit 13 Jahren lebe. Hier kann ich mich identifizieren, wenn der Bürgermeister sagt, dass Platz für afghanische Flüchtlinge ist. Selbst, wenn es nur eine politische Geste ist. Und ich verstehe alle meine österreichischen Freunde, die sich lieber als Wiener:in bezeichnen als Österreicher:in zu sein. Danke Wien, dass du anders tickst.

 

 

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