Der niederländische Kampf um Quadratmeter

22. November 2021

Wohnprotest Rotterdam
Foto: Emiel Janssen

In den Niederlanden ist eine Wohnungskrise ausgebrochen. In den letzten Jahren wurden Wohnungen, Häuser und WG-Zimmer immer teurer und immer kleiner. Jetzt ist die Not am Wohnraum so groß, dass es die Menschen zu landesweiten Protesten auf die Straßen treibt.

Die Stimmung in der Stadt Rotterdam ist angespannt und das zeigt sich nicht nur während der aktuellen Ausschreitungen bei Corona-Demonstrationen. Bereits einige Wochen zuvor herrscht Tumult in der Stadt, der für Schlagzeilen sorgt. Tausende Menschen strömen auf den Afrikaanderplein. In ihren Händen halten sie Schilder mit Botschaften wie: „Ich will einfach nur Wohnen“ und „Wohnen ist ein Grundrecht!“. Auf der Tribüne, die das Aufmerksamkeitszentrum der Demonstration bildet, singt jemand ein Lied. Der Text geht wie folgt: „Amsterdam gibt es nicht mehr, deshalb kommen sie hierher und auch Rotterdam geht mit, mit der Toberei. Jede alte Bruchbude wird renoviert und weitervermietet, doch wir wollen hier nicht Amsterdam werden!“

Mit diesem Lied und der Demonstration in Rotterdam, kritisieren die Niederländer*innen die Wohnpolitik der vergangenen Jahre. Sie protestieren gegen die Gentrifizierung in den Städten, gegen die Einschränkung des Sozialmietensektors und gegen zu hohe Mieten am freien Markt.

Wohnprotest Rotterdam
Foto: Emiel Janssen

Wer in Wien den Sprung aus dem Kinderzimmer in die erste eigene Wohnung plant, muss sich in der Regel ein paar Wochen lang durch Facebook-Gruppen, das Schwarze Brett der ÖH und andere Wohnungsanbieterseiten kämpfen. Nach ein paar Besichtigungen, verklemmten Vorstellungsgesprächen an WG-Küchentischen und WhatsApp-Absagen, können die meisten jedoch schlussendlich in die eignen vier Wände einziehen. In der österreichischen Hauptstadt gilt bis jetzt: Wer suchet, der*die findet.

Ganz anders sieht die Lage für Studierende in den Niederlanden aus: Wer hier aus den elterlichen vier Wänden ausziehen möchte, kann sich auf einen erbitterten Kampf um Quadratmeter gefasst machen. Die Wohnungsnot in den Niederlanden bedeutet, dass es zu wenige bezahlbare Häuser, Wohnungen und Zimmer gibt. Das gilt nicht nur für die bekannte Metropole Amsterdam, sondern auch für Städte wie Utrecht, Nijmegen, Rotterdam und Arnhem. Momentan fehlen in den Niederlanden rund 300.000 Wohnungen. Das zeigt das Forschungsinstitut ABF Research. Die prekäre Lage des Wohnungsmarktes hat sich in den letzten Jahren zugespitzt. Mittlerweile ist sie so ernst, dass im ganzen Land Demonstrationen ausgebrochen sind.

Wohnprotest Rotterdam
Foto: Emiel Janssen

„Wohnraum für alle!“

An der Demonstration am Afrikaanderplein in Rotterdam nehmen auch Lisa (links) und ihre Mutter Wilma (rechts) Teil. Lisa erzählt, dass sie und ihr Freund sich ein Ein-Zimmer-Studio in der Stadt teilen. Dass sie ein Dach über dem Kopf habe, sei ein Privileg, sagt die junge Frau. “Das Problem ist allerdings, dass wir für dieses Studio wirklich viel Geld bezahlen. Ich arbeite Vollzeit und ein Drittel meines Gehalts geht jeden Monat für die Miete drauf.“, erklärt sie.

Wohnprotest Rotterdam
Foto: Emiel Janssen

Lisas Beispiel zeigt, dass die Wohnungsnot nicht nur Studierende und sozial Benachteiligte trifft, sondern auch Menschen mit gemitteltem Einkommen. Durchschnittlich zahlen niederländische Mieter*innen pro Quadratmeter 16,37 Euro. Das zeigen die Zahlen des Jahres 2021, die der Wohnungsanbieter Pararius veröffentlicht hat. Zum Vergleich: Im Jahr 2020 betrug die durchschnittliche Miete pro Quadratmeter in Österreich 8,27 Euro. In den Niederlanden sind die Mieten im Schnitt also doppelt so hoch, wie in Österreich. In Folge, bleibt rund 800.000 niederländischen Mieter*innen zu wenig Geld für ihre Lebenserhaltung und andere notwendige Kosten, nachdem sie ihre Miete bezahlt haben. Das zeigen Untersuchungen des Nationaal Instituut voor Budgetvoorlichting (deutsch: Nationales Institut für Budgetinformationen).

„Als ich so alt war wie meine Tochter, war es viel einfacher, eine leistbare Wohnung hier in Rotterdam zu finden.“, sagt Lisas Mutter Wilma. Sie ist wütend über die negativen Veränderungen am Wohnungsmarkt. „Eine gemütliche Wohnung sollte nicht Menschen mit viel Geld vorbehalten sein. Es ist unser aller Recht ein bezahlbares und gutes Zuhause zu haben! Die Regierung muss hier einfach eingreifen.“

Wo sind die Sozialwohnungen?

Spätestens hier stellt sich die Frage: „Gibt es in den Niederlanden denn keine Sozialwohnungen?“. Tatsächlich gibt es in den Niederlanden Wohnkooperationen, die leistbare Wohnungen für Menschen mit geringerem Einkommen zur Verfügung stellen. Seit dem Ende der 1980er-Jahre, schränkt die Regierung den Sozialmietensektor jedoch stark ein. Basierend auf der Idee, dass der Wohnraum so weit wie möglich dem freien Markt überlassen werden sollte, wurde im Jahr 2013 die Vermieterabgabe eingeführt. Die Vermieterabgabe ist eine Steuer auf Sozialwohnungen. Durch diese Besteuerung steigen die Mieten. Folglich sinkt die Anzahl der Sozialwohnungen und es kommt zu Kürzungen im Unterhalt. Diese Vermarktung des Sozialmietensektors ist das Paradebeispiel dafür, dass die bisherige Wohnpolitik der Regierung die Situation am Wohnungsmarkt vor allem verschlechtert hat.

Der Sozialdemokrat Ricardo Brouwer erklärt, dass der Mangel an Sozialwohnungen mittlerweile zu sehr langen Wartelisten führt. „Wenn man eine soziale Wohnung beziehen möchte, muss man sich auf einer Liste einschreiben. In der Stadt Nijmegen stehen Menschen momentan im Schnitt 12 Jahre auf der Warteliste, bevor sie eine Wohnung zugewiesen bekommen. Das ist doch verrückt!“. Brouwer ist Teil der Parteij van de Arbeid (PvdA) – einer politischen Partei, die mit der österreichischen SPÖ vergleichbar ist. Er war mitbeteiligt an der Organisation der Wohn-Proteste in den Städten Arnhem und Nijmegen.

Wohnprotest Rotterdam
Foto: Emiel Janssen

Hey, alles glänzt, so schön neu!

Nicht nur die Vermarktung des Sozialmietensektors verschlechtert die Lage am Wohnungsmarkt. Auch die sogenannte ‚Aufwertung‘ von alten, heruntergekommeneren Nachbarschaften führt dazu, dass das bezahlbare Wohnen in Gefahr gerät. Deshalb demonstrieren Roozbeh (links) und Tracey (rechts) am Afrikaanderplein in Rotterdam. 

Wohnprotest Rotterdam
Foto: Emiel Janssen

„Die niederländische Regierung unterstützt die Gemeinden und Städte des Landes dabei, große Immobilienentwickler in arme Nachbarschaften zu holen. Dort werden dann Menschen und Familien, die wenig Geld haben, aus ihren Wohnungen vertrieben oder einfach in andere Gegenden umgesiedelt. Ich finde das so furchtbar. Das ist doch das Zuhause von den Menschen, das ist ihre Nachbarschaft!“, sagt Tracey. Ähnliche Gentrifizierungsprozesse wie die in Rotterdam sind auch in Wien erkennbar: Einst unbeliebtere Gegenden wie der Kramelitermarkt oder das Brunnenviertel, sind mittlerweile hippe Nachbarschaften. Das spüren vor allem die langansässigen Mieter*innen in ihren Geldbörserln.

„Die neuen teuren Häuser, die anstelle der alten Wohnungen gebaut werden, die kann sich hier in der Stadt niemand leisten!“, sagt Lisa. Gemeinsam mit ihrer Mutter Wilma sitzt sie auf einer kleinen Treppe neben der Tribüne. Aus den Lautsprechern ertönen mittlerweile antikapitalistische-feministische Kampfansagen, auf die mit Beifall und Jubel reagiert wird. Hier am Versammlungsplatz kann man die Aufbruchsstimmung an diesem Tag förmlich riechen. Das liegt nicht nur daran, dass die Menschenmasse in wenigen Minuten losmarschieren wird, meint Lisa: „Wir bewegen uns mit diesen Protesten in die richtige Richtung. Wir organisieren uns endlich und das finde ich gut!“. Der niederländische Kampf um die Quadratmeter, wird kein schnelles Ende finden. Dafür ist die Wohnkrise zu vielschichtig. Doch die fortschreitenden landesweiten Proteste werden der Politik schlussendlich wohl keine andere Wahl lassen, als den Wohnungsmarkt grundlegend zu renovieren.

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