„Parteistimme schlägt Vorzugsstimme.“

31. August 2020


Polit-Wissenschaftlerin Tamara Ehs über den Vorzugsstimmenwahlkampf, das erkaufte Wahlrecht und kommunistische Bezirksrätinnen.

Von Franziska Mayer

 

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Mag. Dr. Tamara Ehs ist Demokratiewissenschafterin und Beraterin für Demokratie, Demokratiereform und Demokratieinnovation. Sie hat Politik- und Rechtswissenschaften studiert. Ihr neues Buch heißt „Krisendemokratie“ und ist hier erhältlich: mandelbaum.at

 

BIBER: Was, wer und warum wird am 11. Oktober in Wien gewählt?
TAMARA EHS: Einerseits wird der Gemeinderat gewählt, der in Wien gleichzeitig der Landtag ist. Dann werden noch die Bezirksvertretungen gewählt. Es gibt 100 Mandate zu erreichen im Landtag. Es gibt diese 100 Sitze, die entscheiden, wer für die nächsten 5 Jahre im Wiener Landtag Politik machen wird. Dann haben wir die Bezirksvertretungen. Das sind, je nach Größe des Bezirks, 40 bis 60 Mandatare*innen. Man kann zweimal wählen und insgesamt vier Vorzugsstimmen vergeben.

 

Was ist eine Vorzugsstimme?
Mit einer Vorzugsstimme kann ich einer Person, die ich kenne und/oder bei der ich schon gesehen hab, dass sie gute Arbeit macht, eine persönliche Stimme geben. Jede Partei hat ja nicht nur 20 oder 40 Mandatare und Mandatarinnen, die auf der Liste für den Landtag stehen, sondern bei den größeren Parteien sind es 100 oder 200 oder noch mehr, die zur Auswahl stehen. In Wirklichkeit haben größere Parteien aber nur 20 oder 30 Plätze im Rathaus zu vergeben, kleinere meist weniger als 10. An erster Stelle steht der*die Spitzenkandidat*in und dann folgen andere prominente Politiker*innen aus der Partei. Und wenn genug Menschen eine Vorzugsstimme geben, dann wird diese Person, die auf der Liste steht, vorgereiht. Es geht aber nicht, dass ich eine Partei ankreuze und die Vorzugsstimme einer*m Kandidat*in einer anderen Partei gebe. Man kann das nicht mischen. Die Regel ist immer: Parteistimme schlägt Vorzugsstimme.

Wen kann man auf Landtags- und Bezirksebene wählen? Gibt es Parteien, die nur auf Bezirksebene antreten?
Wienweit treten neun Parteien an und dann gibt es kleinere Parteien, die treten entweder nur in einzelnen Wahlkreisen an oder nur in einzelnen Bezirken. Es kann dann sein, dass wir in einem Bezirk eine*n Bezirksrat*rätin von einer Partei haben, die überhaupt nicht im Gemeinderat vertreten ist, also die es wienweit nicht geschafft haben oder nicht angetreten sind. Aber die haben eine Wählerbasis in ihrem Bezirk. Zum Beispiel die KPÖ, die war schon seit Jahrzehnten nicht mehr im Wiener Gemeinderat vertreten, aber in einzelnen Bezirken in Wien stellt sie Bezirksräte*innen. In den Bezirksvertretungswahlen sind auch EU-Bürger*innen wahlberechtigt, die auf Gemeindeebene nicht wahlberechtigt sind. Das heißt, wir haben dort mehr Wahlberechtigte. In den Bezirken sind es rund 1.360.000, bei den Gemeinderatswahlen in Wien haben wir nur ca. 1.130.000. Das ist ein Unterschied von ungefähr 230.000 Menschen, die nur auf der Bezirksebene wahlberechtigt sind.

Was, denken Sie, würde sich ändern, wenn diese Gruppe mitwählen dürfte?
Wir sehen, dass es auch eine soziale Verzerrung gibt. Diejenigen, die nicht mitwählen dürfen, sind durchschnittlich jünger. Die Hälfte der Wahlberechtigen ist über 50 Jahre alt und da ist auch die Wahlbeteiligung höher. Was macht das eigentlich mit einer Gesellschaft, wenn diejenigen, die wählen dürfen, überproportional älter sind? Was bedeutet das für die Zukunft, wenn ich bei den unter 30-Jährigen ein Drittel ausgeschlossen habe? Außerdem ist zu beachten: Diejenigen, die nicht wählen dürfen, verfügen durchschnittlich über ein niedrigeres Einkommen. Einerseits, weil sie jünger sind und die Einkommens- und Vermögensbildung noch nicht weit fortgeschritten ist. Andererseits, weil die Einbürgerung sehr kostspielig ist. Menschen, die manchmal schon zehn Jahre oder länger in Wien sind, die können es sich schlicht nicht leisten, die Staatsbürgerschaft zu beantragen, weil sie einen hohen „ökonomischen Leistungsnachweis“ erbringen müssen. Das heißt: Mit der Staatsbürgerschaft „erkauft“ man sich auch das Wahlrecht. Wir wissen, dass Menschen vorrangig nach ihrer Schicht- oder Klassenzugehörigkeit wählen. Die über 50-Jährigen mit höheren Einkommen wählen dann eher die Parteien, die sich nicht mit Fragen über Soziales, Mindestsicherung oder Jugend beschäftigen.

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