Sandler auf Zeit

07. Dezember 2012

Kalt, kein Dach überm Kopf, kein Cent in der Tasche. Der Alltag eines Obdachlosen ist knallhart. Ich habe mich einen Tag lang auf die Straße begeben und möchte nie wieder dorthin zurück.

von Marian Smetana

Samstag 9 Uhr. Eigentlich ein ganz normaler Morgen. Die Kaffeemaschine dampft, die Stadt erwacht zum Leben, der Mann aus dem Radio wünscht ein schönes Wochenende. Und doch wird es kein gewöhnlicher Tag. Denn die nächsten vierundzwanzig Stunden werde ich ohne Geld, ohne Handy und ohne Dach über dem Kopf verbringen. Für die nächsten vierundzwanzig Stunden bin ich ein Streuner, ein Schnorrer, ein Bettler, jemand, der durch die Straßen zieht und versucht, irgendwie durchzukommen, einer von etwa 8.500 Menschen in Wien, die keine Wohnung haben. Meine Reise beginnt im 4. Bezirk. Viele Leute sitzen gerade in den Cafés und genießen ihr Frühstück. Ich schlendere die Wiedner Hauptstraße entlang und schaue ihnen etwas neidisch zu. Langsam kommt der Hunger. Deshalb will ich versuchen, ein paar Euro zu erbetteln. Doch wie macht man das? Wo ist der beste Platz dafür? Als ich überlege und die passende Stelle suche, merke ich, dass ich mich innerlich dagegen wehre, mich auf die Straße zu setzen und die Hand aufzuhalten. Bei einem kleinen Brunnen, nahe dem Karlsplatz, kann ich mich schließlich überwinden und setze mich auf den Gehsteig. Meine Haube lege ich vor mich auf die Straße, den Schal ziehe ich tief ins Gesicht. Ich merke, dass ich mich schäme und grabe mich noch mehr in meine Kapuze. Die Leute in der vorbeifahrenden Straßenbahn starren mich an, Passanten, die an mir vorbeigehen, ignorieren mich.Ich warte ungefähr 30 Minuten bis eine ältere Dame im Pelzmantel kommt und mich fragt, was ich hier mache. Ich antworte, dass ich keine Wohnung hätte und kein Geld. Sie überlegt kurz und schüttelt den Kopf: „Ich werde ihnen kein Geld geben, aber ein Frühstück zahle ich ihnen, da vorne beim Bäcker.“ Der hat leider schon zu, deshalb drückt sie mir doch zwei Euro in die Hand und wünscht mir alles Gute.

Ein unmoralisches Angebot am Christkindlmarkt

Ich schlage mich bis zum Weihnachtsmarkt am Hohen Markt im 1. Bezirk durch. Um die zwei Euro kaufe ich mir ein Speckbrot. Am benachbarten Punschstand wird mir ein Tee geschenkt, daneben beim Gemüsehändler bekomme ich einen Apfel. Gestärkt beschließe ich, noch ein paar Euro zu sammeln. Ich setzte mich direkt am Markt hin, stelle den Becher Tee vor mir auf und warte. Schnell habe ich fünf Euro beisammen und trotzdem stört mich etwas: Der Blick der Leute. Alle blicken mich so traurig an. Es gibt kein Lächeln, kein „Wie geht’s?“. Langsam geht mir der Blick auf die Nerven. Ein paar Worte wären mir in dem Moment fast lieber als das Geld. Plötzlich taucht aus dem Dampf der Punschstände und der grellen Weihnachtsbeleuchtung ein Mann auf. Er ist etwas älter, tragt eine Aktentasche und einen schicken Anzug. Er wirft zwei Euro in den Becher, fragt mich wie es mir ginge und ob ich hungrig sei. Bevor ich antworten kann, schlägt er vor, dass ich mit zu ihm kommen könne, dort duschen, etwas

Foto: Pixabay
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essen und vielleicht hätte er auch noch etwas Geld zu Hause, das er mir geben könnte. Ich brauche einige Sekunden, bis ich merke, was hier gerade passiert. Ich springe auf, weiß gar nicht was ich sagen soll vor lauter Ekel und verschwinde schließlich in Richtung Mariahilferstraße. Dort lasse ich mich vor einem U-Bahn-Aufgang nieder. Die hunderten Menschen verschwimmen zu einer riesigen Masse, die bunten Reklamen zu ein paar unscharfen Farbklecksen. Hier regiert die Kauflaune, nicht die Spendierlaune. Nicht ein Cent landet an diesem ersten großen Einkaufssamstag auf der Mariahilferstraße in meinem Becher. Im Gegenteil: dreimal wird er umgestoßen. Entschuldigt hat sich niemand.

Für mich soll´s rote Rosen regnen

In einem Kaufhaus nahe dem Westbahnhof treffe ich „Alfie“. Er hockt in einer Ecke, neben den Toiletten; langer schwarzer Mantel, verfilzter grauer Bart, in der Hand eine Flasche Hochprozentiger. Ich setze mich zu ihm. Alfies Geschichte sei ein „Klassiker“, wie er sagt: Spielschulden, Frau weg, Job weg, Wohnung weg. Darauf ein Schluck. Prost. Schon etwas angeheitert erklärt er mir, dass er gerne Schlager singe. Nicht den neuen Kram, sondern die guten alten Sachen. Obwohl ich versuche, ihn davon abzuhalten, gibt er mir eine Kostprobe. Plötzlich springt er auf, trällert lautstark Hildegard Knefs „Für mich soll´s rote Rosen regnen“ durch die schon sehr leeren Gänge des Einkaufszentrums. Im Hintergrund hört man eine Polizeisirene. Dass ihr Heulen uns gilt, merke ich erst, als zwei Polizisten vor uns stehen. Ich versuche Alfie zu beruhigen. Doch der meint, dass ihn die beiden „Kollegen“, wie er sie nennt, schon verstehen werden. Er wäre schließlich auch einmal bei der Bahn gewesen. Die „Kollegen“ nehmen es gelassen und begleiten ihn sanft aber bestimmt zur Tür hinaus. Ich verabschiede mich und höre in der Ferne noch einmal „Für mich soll´s rote Rosen regnen...lalalala“, bevor Alfie in die Nacht verschwindet.

 

Ein Bier, ein Pizzakarton und Pralinen - Der Himmel auf Erden

Der Westbahnhof soll für diesen Tag meine letzte Station werden. Mittlerweile ist es mir schon egal, dass ich mich auf die Straße setze und den Becher vor mich hinstelle. Ich bin müde vom Herumziehen, die Kälte hat mich fest im Griff und ich würde eigentlich gerne jemandem mein Herz ausschütten. Doch ich starre nur auf hunderte Füße, die schnell an mir vorbeilaufen. Doch zwei Füße bleiben plötzlich stehen, sie gehören einer älteren Dame aus Purkersdorf. „Warum sitzen sie auf der Straße, ist ihnen nicht kalt?“ „Ich bin müde“, murmle ich zurück. „Sie werden sich erkälten“, erwidert sie, streckt mir einen leeren Pizzakarton entgegen und deutet, dass ich mich darauf setzen solle. Aus ihrer Tasche zieht sie noch eine Bierdose und eine Hand voll Pralinen, die sie mir schenkt. Ich bin so dankbar, dass ich beinahe aufgestanden wäre und die alte Dame umarmt hätte. „Ein Bier, ein paar Pralinen und eine Pizzaschachtel, was braucht der Mensch mehr?“, denk ich mir zufrieden und nehme einen großen Schluck.

 

Schnaps in der Suppe und der Dalai Lama in der Tasche

Es ist 19 Uhr. Zeit, sich ein Nachtquartier zu suchen. Ich fahre in den 18. Bezirk, zum Keller der Lacknergasse 98. Hier liegt die „Zweite Gruft“, eine von der Caritas betreute Notschlafstelle, in der EU- Bürger, die keine Österreicher sind, übernachten können. 45 Schlafplätze gibt es hier. Außerdem kann man duschen und eine Suppe am Abend essen. Doch man sollte sich beeilen. Um 20:00 Uhr werden die Schlafplätze vergeben. „Für diejenigen, die zu spät kommen, suchen wir Platz in einer anderen Unterkunft“, erklärt Mathias, der heute Nachtdienst hat. Der 27-jährige Caritas-Mitarbeiter nimmt meine Daten auf und klärt mich über die Hausordnung auf: Keine Drogen, kein Alkohol, Nachtruhe um 22 Uhr, aufgeweckt wird um 6 Uhr. Ich hol´ mir einen Schlafsack, eine Isomatte und einen Teller Suppe. Gegessen wird im großen Aufenthaltsraum, der in der Nacht zum Schlafsaal hergerichtet wird. Zigarettenqualm hängt in der Luft und vermischt sich mit dem Geruch von Schweiß und nasser Kleidung. Im Fernseher in der Ecke flimmert eine amerikanische Arztserie, unter dem Tisch macht eine kleine Schnapsflasche die Runde. Obwohl die Suppe gut schmeckt, peppen sich einige mit einem Schluck Hochprozentigem auf. Es ist laut, Witze werden erzählt, ich verstehe zwar kein Wort und schmeiße eine Runde Pralinen. Die Stimmung ist gut und die Sprachen so verschieden, wie die Geschichten, die man hier hört. Mich wundert die positive Stimmung, bei all den Schicksalen und der Perspektivlosigkeit. Nach dem Essen finde ich einen Schlafplatz am Gang des Quartiers. Geschlafen wird am Boden, Schulter an Schulter. Mein Nachbar ist Marek, 35 Jahre alt, aus der Slowakei. Dort sei er von der serbischen Mafia als Bauarbeiter rekrutiert worden, erzählt er in gebrochenem Deutsch. Man hätte ihm gutes Geld versprochen. Gesehen hätte er nie etwas davon. Er begann zu trinken, irgendwie sei er dann nach Tibet gekommen und habe zu meditieren begonnen. Jetzt ist er trocken. Er zeigt mir ein abgegriffenes Foto, auf dem er mit dem Dalai Lama zu sehen ist. Woher er das Geld für die Reise nach Tibet hatte, will er nicht erzählen. Er murmelt irgendetwas von Polizei, Gefängnis und schüttelt den Kopf. Seit zwei Jahren ist er jetzt in Österreich und schlägt sich so durch.

 

Schlaflos in Währing

22 Uhr. Licht aus. An Ruhe ist jedoch nicht zu denken. Eine paar Männer beschweren sich, dass sich zwei Klienten nicht geduscht hätten und nun einen strengen Geruch verbreiten. Es wird lautstark diskutiert, aufgeregt gestikuliert und wieder gelacht. Die Lösung ist schnell gefunden: die beiden kommen unter die Dusche und ein Duftspray wird großzügig im Schlafraum versprüht. Schön langsam kehrt Ruhe ein. Die Aufregung des Tages weicht dem Schnarchen von über 40 Männern. An Schlaf ist, zumindest für mich, nicht zu denken. Bis fünf Uhr liege ich wach, um halb sechs verabschiede ich mich und fahre wieder in Richtung Westbahnhof. Dort angekommen zähle ich mein übriges Geld. Zwei Euro finde ich noch in meinen Taschen. Zum Abschluss des Tages soll es Bier sein. Ich schlurfe zum Würstelstand am Eck. „Bier kost´ 2,40, aber wurscht“, grinst der Würstler. Mein Bier und mich schleppe ich noch ein paar Meter weiter und finde mich auf einer menschenleeren Mariahilferstraße wieder, wo ich mich auf eine kalte, nasse Bank fallen lasse.

 

Es ist 8 Uhr, was bleibt übrig von so einem Tag? Nicht viel, ein Haufen Elend und eine leere Bierdose und viel Respekt vor den Menschen, die jeden Tag auf der Straße verbringen müssen.  Ich mag nicht mehr, ich kann nicht mehr, ich geh´ nach Hause. Und ich bin dankbar, dass ich das kann.

 

Der erbettelte Betrag wurde übrigens zur Gänze der Gruft gespendet. 

 

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Kommentare

 

Die Caritas hat auch ein Kältetelefon. Am besten gleich 01/480 45 53 ins Handy einspeichern und anrufen, wenn Ihr einen Obdachlosen Menschen seht, der offensichtlich Hilfe braucht. Im Rahmen des Nachtstreetworks gehen SozialarbeiterInnen der Gruft Euren Hinweisen nach.

 

so ein super artikel, ich ziehe meinen hut vor dir marian!!!

 

grandios, marian!

 

Toller Artikel, Marian! Respekt für deinen Mut :)

 

Marijan, du bist ein richtiger Penner!;)

spaß beiseite. Hut ab, das ist JOURNALISMUS!

 

Marian du bist mein Hero :D

 
 

Ich will ja nicht politisch korrekt sein. Aber so manche Bewohner des "GEMEINDEBAUS" könnte es ein wenig aufstossen, wenn ihr Alt Erlaa als solch einen bezeichnet. Der Wohnpark Alt Erlaa ist ein eine Gemeinnützige Aktiengesellschaft/AEAG! Sorry, aber in der heutigen Zeit wird das Wort Gemeindebau so gerne missbraucht. Nicht das die Leute in Alt Erlaa etwas besseres sind, aber wer will schon damit verglichen werden, wenn man Sendungen auf ATV "Wir leben in Gemeindebau" sieht. evim şahane-evim şahane-evim şahane-evim şahane-mobilya modelleri-evim şahane-galip derviş-dekorasyon-mobilya grupları

 

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