Srebrenica statt San Franciso

01. Februar 2022

Wenn mich jemand vor fünf Jahren gefragt hätte “Wo siehst du dich in fünf Jahren?” hätte ich eher an San Francisco als an Srebrenica gedacht. Doch jetzt sitze ich hier, in einer ostbosnischen Kleinstadt und leiste als erster österreichischer Auslandsdiener meinen Zivildienst am Srebrenica Memorial Center, der Gedenkstätte für den Genozid gegen die bosniakische Bevölkerung, ab.


Gastbeitrag von Dennis Miskić

Es war keine leichte Entscheidung für mich. Meinen Auslandsdienst in Srebrenica anzutreten hieß, ein Jahr an jenem Ort zu verbringen, an dem im Juli 1995 über 8000 Bosniaken nur aufgrund ihrer Ethnizität umgebracht wurden. Als gebürtiger Wiener, dessen Eltern in den 90er Jahren aus Bosnien und Herzegowina nach Wien gekommen sind, um so einem Schicksal zu entkommen, habe ich nur sehr wenig über meine eigene Geschichte und Kultur gewusst. Bei meiner Arbeit habe ich aber nun die Möglichkeit, mich mit dieser Geschichte näher auseinanderzusetzen und unter anderem Interviews mit Überlebenden zu führen.

Obwohl mir meine Kolleg*innen dauernd Fotos aus Los Angeles, Kapstadt oder New York schicken, spüre ich kaum Neid. Ganz im Gegenteil. Ich bin hier in Srebrenica sogar überglücklich und könnte mir nicht vorstellen, an einem anderen Ort zu sein.

Srebrenica, Dennis, Zivildienst, Bosnien
privat

Versteht mich nicht falsch. Srebrenica ist natürlich keine Trendmetropole und das Leben hier ist auch nicht immer optimal für einen 19 Jährigen. Jedoch hat es ein gewisses Etwas. Dieses gewisse Etwas bekommt man im Leben auch nur sehr selten zu spüren. In diesem Fall hat es damit zu tun, dass ich in das Herkunftsland meiner Eltern zurückgekehrt bin und dieses aus einer ganz neuen Perspektive kennenlernen kann.

„Aber woher kommst du wirklich?“

Warum es mir auch so einfach gefallen ist, hier in Srebrenica Fuß zu fassen, ist leicht zu erklären. Es fühlt sich mittlerweile an, wie mein zweites Zuhause. In Österreich, dem Land, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, wurde ich, seitdem ich denken kann, aufgrund meines Nachnamens dauernd gefragt, woher ich denn wirklich komme und warum ich das “R” so “komisch” ausspreche. Viele unangenehme Momente, die alle Menschen mit Migrationshintergrund sicherlich nachvollziehen können. Umso schöner war es aber, zum ersten Mal Anerkennung und Zugehörigkeit von den Leuten in Srebrenica zu spüren. “Ti si naš” (“Du bist einer von uns”) haben die meisten zu mir gesagt und mich auch so behandelt. Ich bin einer von ihnen.

Endlich kann ich mich mit meiner Kultur, meiner Geschichte und meiner Identität auseinandersetzen. Endlich die verrückten Geschichten aus der Jugend meines Vaters nachvollziehen und typisch bosnische Kaffeehäuser besuchen.

Es fühlt sich an, als hätte ich das letzte fehlende Puzzleteil meiner Persönlichkeit endlich gefunden. Als hätte ich einen Teil von mir selbst wiedergefunden, von dem ich nie wusste, dass er fehlt. Jetzt ist das Puzzle endlich vollständig.

Wertvoller als jede College-Party der Welt

Ich schreibe diese Zeilen, während ich mich in Quarantäne befinde. Anfangs hatte ich die Sorge, dass ich komplett auf mich alleine gestellt bin, jedoch haben mir meine Arbeitskolleg*innen und Freund*innen bewiesen, dass ich alles andere als alleine bin. Täglich versorgen sie mich mit frischem Obst und Gemüse aus ihrem eigenen Garten und selbstgebranntem Rakija für die Halsschmerzen (und Langeweile). Sie kommen sogar bei - 15 Grad täglich unter mein Fenster, nur statt „Rapunzel, lass dein Haar herunter“ sagen sie, „Pa gdje si Dennise, šta ima?” ("Wie geht's dir, Dennis?"). Sie wollen sich vergewissern, dass es mir gut geht. Aber wie könnte es mir hier jemals schlecht gehen, wenn ich ständig von gutmütigen, großzügigen und unglaublich offenen Menschen umgeben bin.

Für mich hätte es nicht besser kommen können. Die Erfahrungen, die ich hier mache, sind mehr wert als jede Strandaussicht und College-Party der Welt. Und hey, Partys und Strände kann ich nach meinem Auslandsdienst bestimmt nachholen. Wer weiß, was mich als Nächstes erwartet, vielleicht San Francisco?

Lust bekommen? Mehr Infos zum Auslandsdienst in Srebrenica findest du hier.

 

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