Über sozial starke Kinder

26. November 2018

Viele glauben, in Wiener „Brennpunktschulen“ gehe es zu wie in der Bronx. Die Wahrheit ist aber: Ich habe nirgends so herzliche, liebevolle Kinder kennengelernt wie an diesen Schulen.

Von Melisa Erkurt


Neulich stand ich nach einem schlechten Morgen in einer Klasse. Ich versuchte alles, damit die Kids meine Laune nicht bemerken. Sie waren so lieb in der Stunde, arbeiteten fleißig mit, fragten, was ich am Wochenende vorhabe und brachten mich mit Erzählungen von ihrem letzten Wochenende zum Lachen. Am Ende der Stunde sagte ein Schüler aus der ersten Reihe ganz leise zu mir: „Heute waren Sie traurig. Geht’s Ihnen schon besser?“ Ich war gerührt, was waren das bloß für empathische Kinder.

Aber das dachte ich mir nicht zum ersten Mal. Immer, wenn mich die aktuelle Debatte rund um die Bildungspolitik frustriert, ich den Glauben daran verliere, dass wir dieses Zwei-Klassen-Schulsystem jemals überwinden werden, gibt mir die Arbeit mit Kindern und Jugendlichen Hoffnung. Denn an all diesen sozioökonomisch schwächeren Schulen, auch Brennpunktschulen genannt, habe ich Kinder und Jugendliche mit den größten Herzen und tollsten Charakteren kennengelernt.

4d der WMS Loquaiplatz
Foto: Marko Mestrovic

Kinder, die mir in der Pause ihre Jause angeboten haben. Kinder, die mir Baklava mitgebracht haben („Die hat meine Mama für Sie gemacht, nachdem ich ihr von Ihnen erzählt habe“). Kinder, die sich nicht wegen Äußerlichkeiten über den anderen lustig gemacht haben. Oftmals waren Kinder dabei, bei denen ich wusste, so traurig es klingt, dass sie in einer anderen Schule beispielsweise wegen ihrer Kleidung gemobbt werden würden. Oder Mario, der zwei Köpfe kleiner als alle anderen war, er wurde von keinem seiner Schulkollegen aufgrund seiner Größe gehänselt, im Gegenteil, er wurde von seinen Mitschülern im Park „beschützt“. „Normal, er ist unser Bruder.“

Kinder, die noch Ärmeren ihr Jausengeld schenken. Kinder, die vor Freude weinen, weil sie sich so für ihre Freundin freuen, deren Mutter nach drei Jahren in Syrien endlich nach Österreich nachkommen darf. Kinder, die sich bei schlechten Noten trösten, die einander beim Elternabend nicht auslachen, weil der Papa nicht so gut Deutsch spricht, sondern füreinander dolmetschen. Kinder, die sich vor den anderen nicht schämen zuzugeben, dass sie gerade kein Geld fürs Kino haben, weil sie wissen, keiner wird sie deshalb schief anschauen.

„HEISST DAS, DASS WIR DUMM UND ASOZIAL SIND?“

Ich weiß von vielen Lehrer*innen, dass sie aufgrund dieser Herzlichkeit der Kinder und deren Eltern viel lieber an solchen Schulen unterrichten, als an Schulen, an denen die Kinder auf sie herabsehen, weil sie „nur“ Lehrer sind und die eigenen Eltern etwas viel Besseres. Sie werden von den Eltern nicht in Frage gestellt, sie sprechen ihnen nicht ihre Kompetenzen ab und drohen bei einem „Nicht Genügend“ nicht mit Anwälten. Schulen, an denen den Kindern verboten wird, sich zu umarmen, so wie im Theresianum in Eisenstadt. Das ist natürlich ein Einzelfall und es gibt überall großartige Kinder und Jugendliche, aber diese Herzlichkeit, diese Dankbarkeit, das Mitgefühl und die Akzeptanz - das alles habe ich an diesen Schulen viel stärker als sonst wo erlebt.

Und als mich Milan aus der 4b fragt, ob seine Schule denn eine dieser Brennpunktschulen sei, von denen alle immer reden und ob sozial schwach bedeutet, dass er und die anderen dumm sind, wird mir plötzlich ganz anders. Auch als die 13-jährige Kübra ihm erklärt, dass sozial schwach bedeute, dass sie nicht sozial sind, bin ich schockiert. Mir war nicht klar, was solche Begriffe bei den Kindern auslösen. Seitdem kläre ich diese riesengroßen Missverständnisse in jeder Klasse ganz schnell auf. Weil wenn diese Kinder und Jugendlichen etwas nicht sind, dann dumm und asozial.

Tatsächlich sind sie so großartig, dass ich nach der gemeinsamen biber Newcomer-Woche mit ihnen nicht glauben mag, dass ich sie nicht mehr wiedersehe. Einmal sind sogar Tränen geflossen – bei den Schüler*innen und mir nachdem unsere gemeinsame Woche um war. Mit einigen bin ich dann durch Social-Media und telefonisch in Kontakt geblieben. Und weil ich das Schulprojekt schon seit über drei Jahren leite, bekomme ich mit, was aus vielen dieser Schülerinnen geworden ist – manche erfüllen sich ihren Traum, von dem sie mir damals erzählt haben und machen eine Lehre, andere besuchen eine weiterführende Schule, aber egal, was aus ihnen beruflich wird, eines sind sie jetzt schon: Wundervolle Persönlichkeiten, die großen Eindruck bei mir hinterlassen haben.


Melisa Erkurt tourt mit dem biber-Projekt „Newcomer“ seit drei Jahren durch Wiener Schulklassen und berichtet regelmäßig über ihre Erfahrungen aus den Schulen.

* Die Klasse auf diesem Foto ist nicht diejenige, die im Text behandelt wird. Danke für die Kooperation an die liebe Klasse am Foto. Ihr seid mindestens genauso toll!

 

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