Warum wir und nicht die?

30. September 2015

„Warum sollen wir in Europa die Welt retten und all diese syrischen Flüchtlinge aufnehmen, wenn sich ihre arabischen Brüder und Schwestern im Glauben nicht um sie kümmern?“

Gastkommentar von Karim El-Gawhary

Warum wir und nicht die?
Foto: Dragan Tatic

Fakt ist, die arabische Welt ist derzeit in der Aufnahme und Hilfe für die syrischen Flüchtlinge zweigeteilt. Die Nachbarländer Syriens, mit derzeit vier Millionen registrierten Flüchtlingen, tragen in dieser Krise eine Bürde, die jenseits der europäischen Vorstellungskraft liegt. Das kleine Jordanien hat 630.000 aufgenommen. Im kleinen Libanon ist derzeit mindestens jeder vierte Bewohner ein syrischer Flüchtling. Das wären umgerechnet auf Österreich zwei Millionen Flüchtlinge. Da wär was los am Wiener und Salzburger Hauptbahnhof. In der Türkei leben zwei Millionen Syrer. Von diesen Ländern aus betrachtet ist die europäische Flüchtlingskrise ein Flüchtlingskrislein.

KARIM EL GAWHARY ist langjähriger Auslandskorrespondent und berichtet für TV, Radio und Print aus den Krisengebieten in Nahost. In Kairo leitet er das Studio des ORF. Der Sohn einer deutschen Mutter und eines ägyptischen Vaters hat kürzlich sein Buch "Auf der Flucht" veröffentlicht.

VERLORENE GENERATION

Und gerade diese Länder, die das Gros der Flüchtlinge aufgenommen haben, fühlen sich vom Rest der Welt und auch vom europäischen Nachbarn alleine gelassen. Das UN-Flüchtlingswerk bräuchte für das laufende Jahr 4,5 Milliarden Dollar, um die dortigen Flüchtlinge mit dem Nötigsten zu versorgen. Bisher wurden weniger als 40 Prozent dieser Summe eingezahlt. Das heißt konkret, dass Flüchtlingsprogramme, etwa im Libanon, zurückfahren werden müssen, zum Beispiel bei  Schulprogrammen. Im Moment gehen 750.000 syrische schulpflichtige Kinder nicht zur Schule. Da geht gerade eine ganze Generation vor die Hunde, die eigentlich später ihr Land wieder aufbauen sollte. Wer heute also schreit, dass das europäische Boot voll sei,  der sollte wenigstens finanziell dafür sorgen, dass das libanesische, türkische und jordanische Boot nicht untergeht. Von der Nahostregion aus gesehen ist das europäische Flüchtlingsproblem also relativ.

warum wir und nicht die?
Foto: Dragan Tatic

Und doch gibt es da auch jenen zweiten Teil der arabischen Welt, der sich bisher aus der Flüchtlingskrise fein herausgehalten hat. Ausgerechnet die ölreichen Golfstaaten nehmen keine Flüchtlinge auf. Wenngleich sich das Bild ein wenig relativiert, wenn diese darlegen, wie viele Syrer in den letzten vier Jahren zu ihnen als Arbeitsmigranten gekommen sind, und wenn diese Staaten immer wieder betonen, dass sie beispielsweise in Jordanien ganze Flüchtlingslager fi nanzieren. Aber das alles ist bisher für sie ein Klacks. Allein letztes Jahr haben die Golfstaaten 110 Milliarden Dollar für Waff en ausgegeben.

Das kleine Jordanien hat 630.000 Menschen aufgenommen

Zaatari refugee camp
MANDEL NGAN / AFP / picturedesk.com, Dragan Tatic, bereitgestellt

„SCHÄMT EUCH-KAMPAGNE“

Eine Diskrepanz, die auch der arabischen öffentlichen Meinung nicht entgangen ist. Gerade die Bilder von der Hilfsbereitschaft in Deutschland und Österreich haben dazu geführt, dass man sich kritisch dem eigenen zuwendet. Auf den arabischen Facebook-Seiten kursieren seitdem zahlreiche bissige Karikaturen oder Fotomontagen: Wie etwa die Ikone des  an einen Strand angeschwemmten Flüchtlingskindes, das auf den Konferenztisch der Arabischen Liga drapiert wurde, meist versehen mit dem Kommentar „Und was macht ihr?“ Die Hauptkritik geht dabei an Golfstaaten, die das Syrienproblem zwar mitverursacht haben, aber sich nun fein raushalten und die überforderten Nachbarstaaten Syriens nicht unterstützen. 

Es kursiert auf den arabischen Sozialen Medien  auch ein angebliches Merkel-Zitat: „Morgen werden wir unseren Kindern erzählen, dass die syrischen Flüchtlinge zu uns gekommen sind, obwohl Mekka, das Herz des Islam, viel näher liegt.“ Merkel hat das nie gesagt, aber neue soziale Medien sind auch in der arabischen Welt nicht nur eine Reflexion der Wirklichkeit, sondern der Wahrnehmung dergleichen. So ist nun auch in der arabischen Welt eine Diskussion losgetreten worden, warum die Golfstaaten zwar Höherekorde mit blitzenden Wolkenkratzern brechen, aber keine Lager für Flüchtlinge aufbauen können? Es brauchte für die arabische Öffentlichkeit nicht nur der Berichte von Syriens überforderten Nachbarstaaten, sondern der Bilder von den helfenden Händen Europas, um die Golfstaaten jetzt mit einer „Schämt euch-Kampagne“ zu überziehen. Noch nie sind die Golfstaaten so in der innerarabischen Kritik gestanden.

 Das Fazit:

In der EU muss man gewahr sein, dass man dort trotz voller Bahnhöfe und Toten am Rande der Autobahn nur einen relativ kleinen Teil des Flüchtlingsproblems schultert. Und ja, die arabische Welt, allen voran die Golfstaaten, kann mehr tun, um die Nachbarländer Syriens zu entlasten. Mit dem Finger jeweils auf die anderen zu zeigen, um damit sein eigenes Gewissen zu entlasten, ist sicherlich keine weiterführende Strategie, genauso wenig wie sich an den faulen Äpfeln am Golf zu orientieren. Es geht nicht um ein „entweder Europa oder die Golfstaaten“. Diese Flüchtlingskrise ist zu groß, als das s irgendjemand nicht mit anpackt.

 

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