Wer ist für die Gewalt in Favoriten verantwortlich?

02. Juli 2020

Nach den Ausschreitungen zwischen linken, vorwiegend kurdischen Gruppierungen und rechtsextremen Grauen Wölfen im Wiener Gemeindebezirk Favoriten rätselt die Öffentlichkeit – wer ist schuld am plötzlichen Ausbruch der Gewalt? Hakan Gördü (SÖZ) und Zeynam Arslan (Sozialwissenschaftlerin) versuchen sich an einer Antwort. 


Gewalt Favoriten
Foto: SÖZ

Hakan Gördu, 36, ist Obmann der Wiener Partei SÖZ und war beim Geschehen vorort.

 

"Mehrere Tage lang herrschte Chaos im 10. Wiener Gemeindebezirk. Die Medien berichteten über „faschistische türkische Gruppen”, die „kurdische Demonstrant_innen” angriffen. Es handelte sich hierbei mehrheitlich um 15-19-jährige Teenager, Jugendliche mit starkem Organisations- sowie Aggressionspotenzial. Innerhalb kürzester Zeit formierten sie sich zu einem wütenden Mob und ließen sich durch Provokationen manipulieren. Ein Grund zur Sorge. Auf der anderen Seite fanden Demonstrationen statt, die spätestens am zweiten Tag von der PKK (die in der EU verbotene Arbeiterpartei Kurdistans) Anhänger_innen für propagandistische Zwecke unterminiert wurden. Dass PKK Anhänger_innen als Kurd_innen bezeichnet werden, zeigt, wie verzerrt die Darstellung in der österreichischen Wahrnehmung ist. Denn viele Kurd_innen sind selbst Opfer der PKK und fühlen sich nicht durch die militante Linie dieser Organisation vertreten.

ZU LASCHER UMGANG MIT DER PKK?

Die Wiener Bevölkerung, die sich zu Recht keine Ausschreitungen mitten in Wien wünscht, ist empört. Die Profiteur_ innen dieser Empörung sind vor allem rechtspopulistische Parteien. Denn sie fühlen sich in ihrem Alarmismus gegenüber „Ausländer_innen” bestätigt. Dies führt in weiterer Folge zu einer nachhaltigen Störung des gesellschaftlichen Klimas. Kurz vor den Wahlen könnten sie sich kein besseres Ereignis herbei wünschen. Also zurück zur ursprünglichen Frage: Wer ist schuld an der Eskalation?

Sind es die Behörden, die der PKK seit Jahrzehnten Demonstrationen erlaubt haben? Sind es die Jugendlichen, die in vierter Generation noch nationalistischer wurden, als es ihre Eltern jemals waren? Sind es Menschen, die ihren Kampf aus der Türkei auf dem Rücken einer hier lebenden Minderheit austragen? Sind es die rechten Politiker, die den Rassismus schüren und somit Jugendlichen das Gefühl der gesellschaftlichen Zugehörigkeit nehmen? Sind es die Eltern, die die Kontrolle über ihre Kinder verloren haben? Sind es Vereine, die Jugendliche nicht mehr erreichen? Sind es die sozialen Zustände, die fehlende Bildung, die Diskriminierung in Schulen und in der Arbeitswelt? Oder die gänzlich fehlende kultursensible Sozialarbeit für türkische sowie kurdische Jugendliche? Ich denke, es ist die Summe all dieser Faktoren. Vor allem ist es unsere eigene Schuld, die Schuld der Erwachsenen, die ihren Jugendlichen schon lange nicht mehr zuhören. Wir brauchen wieder eine Verbindung zu den jungen Menschen und dürfen uns nicht davor scheuen, neue Wege zu beschreiten. Wenn Jugendliche nicht zu uns kommen, dann müssen wir zu ihnen gehen, ob in Shisha Bars oder in Spielhallen. Wir müssen ihnen das Vertrauen an die Gesellschaft zurückgeben. Dies erfordert gezielte Jugendarbeit und mehr staatliche Mittel für die Umsetzung tiefgreifender Projekte. Wenn wir es schaffen, diesen jungen Menschen eine Perspektive für ihre Zukunft in Österreich zu geben, werden sie verstehen, dass sie viel mehr sind als die vermeintlichen Beschützer ihrer eigenen Nationalität!"

 

Gewalt Favoriten
Foto: Ben Owen-Browne

Zeynem Aslan, 34, ist Autorin, Sozialwissenschaftlerin und Expertin im Bereich Gender- und Diversitätsmanagement. Auch sie war vorort.

 

Am 24. Juni wurde im Wiener Favoriten die Frauenkundgebung des links-politischen Migrant*innenvereins ATIGF attackiert. Die Frauen wollten auf den Anstieg der Morde an Frauen aufmerksam machen und verbanden die Entwicklungen auf globaler Ebene (Angriff des türk. Militärs auf drei kurdische Aktivistinnen in Nordsyrien). Diese Frauenkundgebung wurde am Viktor Adler Markt von aggressiven, wutgeladenen, gewaltbereiten Männern gestört und attackiert. Die Frauen mussten sich dann in ihre Vereinsräumlichkeiten im Ernst Kirchweger Haus (EKH) zurückziehen und stundenlang auf Hilfe warten. Währenddessen sammelten sich binnen kürzester Zeit hunderte junge Männer, Anhänger der Grauen Wölfe. Am 25. Juni eskalierte die Lage. Der Demonstration, die als Protest gegen die männliche Aggression gegen die Frauenkundgebung am Tag zuvor organisiert wurde, wurde mit einer Racheaktion am Abend begegnet. Die jungen Männer versammelten sich zu hunderten rund um das EKH. Sie gingen ins Gebäude hinein, drohten den Bewohner*innen und Vereinsmitgliedern mit dem Tod, zeigten Messer und andere Waffen, wogegen sich die Menschen im EKH nur mit Sesseln und Fahnenstöcken zu wehren versuchten. Mit „Allah-u Akbar!“ und „Recep Tayyip Erdogan!“ Slogans drohten sie, das Gebäude anzuzünden. Es handelt sich um die gleiche Gruppe aus Favoriten, die heuer die 1. Maikundgebung am Keplerplatz provoziert und attackiert hatte.

KOORDINIERTE PROVOKATION

Die Männer kommen aus Kreisen der türkischen Ultranationalisten und diversen islamischen und islamistischen Strömungen. Sie sind in den Vereinen dieser organisiert und scheinen auch von dort aus mobilisiert zu werden.  Das Vorgehen war geplant: Zuerst werden Teenager und Minderjährige vorgeschickt, um die Lage in der Demonstration abzuchecken – im Anschluss kommen ältere Männer, um Einzelpersonen zu provozieren. Sie kommunizieren ständig über ihr Handy Anweisungen. Kaum erteilt die Polizei einen Platzverweis, kommen die nächsten und umzingeln die Veranstaltung.  Diese Männer, die die letzten Tage Menschen mit dem Tod und Anzündung des EKHs bedroht haben, sind definitiv keine Opfer. Sie nehmen mit ihren Handykameras Videos und Bilder von Personen auf, die sich bei den Antifaschismusdemonstrationen und -kundgebungen beteiligt haben, und schicken die Infos in ihren eigenen Reihen durch. Sie verfolgen die Menschen und schüchtern die ein, die zum Teil im Bezirk selbst wohnhaft sind. Tatsächlich ist die Haltung der Polizei besonders fragwürdig gewesen. Zum einen scheint sie sich über die Dimension der Situation nicht im Klaren zu sein und/oder degradiert bewusst rassistisch das Thema pauschal zu einem „Kurden-Türken-Konflikt im Ghetto Favoriten“. Es fehlen die interkulturellen und sprachlichen Kompetenzen. Die jungen Männer erzählen, drohen und sagen auf Türkisch ganz andere Inhalte und auf Deutsch versuchen sie, die Polizei auf die eigene Seite zu ziehen. Sie machen den Wolfsgruß und provozieren die Teilnehmer*innen von angemeldeten Demonstrationen mit faschistischen Slogans. Die Polizei argumentiert, dass sie stets de-eskalierend handelt. Viele Menschen haben tatsächlich den Eindruck, dass die Polizei wohl darauf gewartet hat, dass sich die sogenannten Ausländer*innen allesamt gegenseitig die Köpfe einschlagen. Das Profil dieser jungen Männer ist ein aggressives, autoritäres, gewaltbereites marginalisiertes Männerprofil. Bei den gewaltsamen Ausschreitungen handelt es sich nicht um ein Integrationsproblem, die gewaltbereiten, faschistischen Männer sprechen allesamt gutes Deutsch. Es handelt sich auch nicht um ein Ausländerproblem – Kurden gegen Türken. Die Ausschreitungen zeigen vor allem eines auf: Wir haben ein Faschismus-, Rassismus- und Sexismusproblem!

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