Studie in Jugendzentren: "Wer ist hier radikal?"

24. Oktober 2016

Die Studie zu Jugendlichen in der Jugendarbeit beschäftigt seit zehn Tagen die breite Öffentlichkeit. Anstatt sich sachlich mit den Problemen auseinander zu setzen, wird medial die Radikalisierungskeule geschwungen. Gastkommentar eines Jugendarbeiters.

 

Donnerstag 13.10. in einer Wiener Jugendeinrichtung. Ein ganz normaler Arbeitstag: Am Vormittag ein Schulworkshop in einer Neuen Mittelschule, danach ein Haftbesuch und am Abend Burschentag.

Allerdings wurde am Vormittag eine Studie zu „Jugendlichen in der Jugendarbeit“ im Auftrag der Stadt Wien im Rahmen eines Pressegesprächs vor-veröffentlicht. Im Fokus dieser Studie standen einerseits „polarisierend-abwertende Einstellungen“ und andererseits die „Radikalisierungsgefährdung von muslimischen Jugendlichen“. Seitdem läuten die Diensthandys durchgehend, JournalistInnen wollen wissen „was die Jugendlichen dazu sagen“, „wie sich die Studie auf unsere Arbeit auswirkt“, ob sie mit „antisemitischen oder homophoben Jugendlichen reden können, zumindest radikalisiert sollen sie sein“.

 

Freitag 14.10., Mädchentag in der Jugendeinrichtung. Eine Gruppe Mädchen und junger Frauen, die wir teilweise schon seit Jahren in unterschiedlichen Bereichen begleiten, gibt ein Interview zum Thema Islam. Die Mädchen haben sehr unterschiedliche Zugänge zu „ihrer“ Religion, die auch nicht in Stein gemeißelt sind und sich immer wieder verändern. Das wissen wir aus den letzten Jahren intensiver Betreuung.

Eines der Mädchen trägt ein Kopftuch und hat eine Zeitlang überlegt, auch den Niqab zu tragen, wir kennen sie aber auch im Ballkleid und High Heels, geschminkt. Diskussionen darüber, wie man am besten leben soll, unterschiedliche Meinungen und Haltungen dazu, sind elementare Bestandteile unserer täglichen, spannenden Arbeit.

Als die Radiojournalistin der Gruppe Fragen zu „ihrer“ Religion und im speziellen zum Thema Kopftuch bzw. Vollverschleierung stellt, passiert etwas sehr Spannendes: Die Mädchen sind sich auf einmal überraschend einig und geraten aus unserer Sicht in eine Art „Verteidigungshaltung“, sie wollen der Journalistin erzählen wie schön „ihre“ Religion ist und „wie süß es nicht auch ist, wenn jüngere Mädchen Kopftuch tragen“. Große Überraschung bei den Betreuerinnen – normalerweise sind die Diskussionen zu diesem Thema sehr viel kontroverser und auch (selbst-)kritischer. Aussagen wie diese bleiben von den anderen Besucherinnen nicht unhinterfragt und es entstehen spannende Diskussionen.

 

Was ist passiert? Die Antwort findet sich in der Studie: Jugendliche „machen sich verstärkt Sorgen über kollektiv erfahrene Ablehnung ihrer Kultur oder Religion (…).“ Religion erfüllt für viele die Funktion eines „Identitäts- und Abgrenzungsmarker[s], da die Jugendlichen über sie Zugehörigkeit und Aufwertung erfahren können, (…) während andere Möglichkeiten ausbleiben.“

 

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Markus Scholz / dpa / picturedesk.com

 

Frage, die kein Journalist stellt

Die Journalistin fragt genauer nach, diesmal zum Thema Burka, und wieder passiert etwas Spannendes: die Mädchen sind sich nicht mehr einig und diskutieren lautstark. Es ist nichts anderes passiert, als dass „(…) viele der problematischen und abwertenden Aussagen der Jugendlichen beim näheren Nachfragen ihre Eindeutigkeit verlieren und in Unsicherheiten und Widersprüche umschlagen (…)“, wie auch in der Studie nachzulesen ist.

 

Die Ergebnisse der Studie sind zum Teil besorgniserregend, aber mit Blick auf die Erwachsenenwelt wenig verwunderlich. Bei einer Umfrage des Zukunftsfonds der Republik Österreich Anfang 2015 stimmen 29 Prozent der Aussage "Man sollte einen starken Führer haben, der sich nicht um Wahlen und Parlament kümmern muss" mehr oder weniger zu.

Eine Frage hat interessanterweise bei den unzähligen Anrufen von JournalistInnen niemand gestellt: „Wie, glaubt ihr, entstehen diese Einstellungen bei Jugendlichen?“

Die Antwort ist einfach. Laut der deutschen Soziologin Andrea Kleeberg-Niepage entstehen abwertende Einstellungen im Prozess der Sozialisation, werden also über die klassischen Sozialisationsinstanzen Familie, Schule, Medien und Peer Group weitergegeben.

 

Dienstag 18.10. in der Jugendeinrichtung, Teamsitzung, Diskussion über die mediale Berichterstattung. Wir lesen Schlagzeilen wie „Antisemitisch, homophob, radikalisierungsgefährdet: Eine Studie gibt Einblick in die geistigen Ghettos junger Muslime in Wien.“ (Profil), „Jeder Vierte unterstützt 'Heiligen Krieg'“ (Österreich), "Anstatt wenigstens die zweite Generation irgendwann einmal zu integrieren, ziehen wir uns hier eine neue Generation teilweise fanatischer Dschihadisten heran, die uns und unsere Kultur weder akzeptieren noch respektieren" erklärt der Bildungs- und Jugendsprecher einer Wiener Partei. Von den Kommentaren in zahlreichen Online Foren ganz zu schweigen.

 

Wollen wir den Jugendlichen helfen oder sie abwerten?

Was hier passiert ist nichts anderes, als ein medial aufgeheizter polarisierend-abwertender öffentlicher Diskurs. Ein Diskurs, der die Jugendlichen mit-sozialisiert und mitverantwortlich für ihre abwertend-polarisiernden Einstellungen ist.

Warum sollten Jugendliche andere Gruppen nicht abwerten, wenn sie genau diese Abwertungen und Verkürzungen in der Erwachsenenwelt tagtäglich erleben? Wie sollen sie lernen, dass es nicht nur „Schwarz“ und „Weiß“ gibt, wenn zeitgleich der öffentliche/gesellschaftliche Diskurs über weite Strecken keine Grautöne aufzeigt und vielfach vermittelt wird, dass die Wahl die sie treffen müssen ein klares „entweder – oder“ ist – „Islam oder Österreich“, „Kopftuch oder Integration“, „Scheitern oder Erfolg“?

Wenn uns die Ergebnisse der Studie beunruhigen, sollten wir mit gutem Beispiel vorangehen und einen ehrlichen, offenen und vor allem sachlichen Diskurs über abwertende und autoritäre Einstellungen führen und vor allem eines nicht tun: dieses Problem voll und ganz auf Jugendliche zu projizieren und Jugendliche abzuwerten.

 

Die Verantwortung der Erwachsenen

Radikalisierungsprozesse werden insbesondere dann problematisch, wenn Personen einer möglichen Hinterfragung ihres Weltbildes nicht mehr zugänglich sind. Dass die Jugendlichen, welche in der Studie befragt wurden, offen für die Auseinandersetzung darüber sind, beweisen sie tagtäglich. Indem sie Einrichtungen der offenen Jugendarbeit besuchen und sich (für sie oft unangenehmen) Diskussionen mit den JugendarbeiterInnen und anderen Jugendlichen stellen. Werden Jugendliche als Individuen so angenommen, wie sie sind, ist es ihnen in diesen Diskussionen möglich, nicht in eine „Verteidigungshaltung“ zu verfallen und beim genaueren Nachfragen ihre Weltbilder kritisch zu hinterfragen.

Das Weltbild von Jugendlichen ist kein gefestigtes, es entwickelt sich im Laufe der Adoleszenz und Identitätsbildung. In dieser Phase hat die Erwachsenenwelt eine besonders große Verantwortung.

 

 

 

Team Back Bone

Back Bone ist die Mobile Jugendarbeit im 20. Wiener Gemeindebezirk. Unser Ziel ist es, die Lebenssituation der Jugendlichen nachhaltig zu verbessern. Sie sollen einen anerkannten Platz in der Gesellschaft erhalten, sich entfalten und an der Weiterentwicklung unserer Gesellschaft mitwirken können. Wir begleiten und unterstützen die Jugendlichen auf ihrem individuellen Weg. Bieten einen niederschwelligen Zugang zu Beratung an, indem wir über Streetwork mit den Jugendlichen in Beziehung treten. Außerdem bedienen wir uns der Methoden Gruppen- und Projektarbeit sowie der Einzelfallhilfe

Wir sind eines von 70, von der Stadt Wien geförderten, Teams der offenen Jugendarbeit und damit auch Teil des Wiener Netzwerkes für Prävention und Deradikalisierung

 

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