Ich bin in Wien geboren. Manche Freunde titulieren mich als “liberalen Türken”, obwohl ich nicht wüsste, was ein radikaler Türke sein soll. Eigentlich beginnt genau hier das Integrationsthema in Österreich, aber das ist eine andere Geschichte. Jetzt werde ich häufig nach meiner Meinung zu Erdogan, dem Islam und dem Putschversuch gefragt.

Erdogan als Nutznießer

Was in der Türkei momentan geschieht ist höchst komplex. Sogenannte “Türkei-Experten” werden jetzt zu Sondersendungen eingeladen und verbreiten eine sehr einfach dargestellte Meinung. Es kursieren viele Falschmeldungen, Behauptungen und Theorien, warum es einen Putsch in der Türkei gab, ob es überhaupt einer war und wer dahinter stecken könnte.

Um die Lage der Türkei einschätzen zu können, sollte man sich mit Erdogans Werdegang und Begriffen wie "Kemalisten", "Balyoz" (Ein angeblich gescheiterter Putschversuch des türkischen Militärs im Jahr 2002) oder die "Gülen-Bewegung" vertraut machen. Hierzu gibt es bereits sehr gute Dokumentationen und Artikel. Doch selbst hier ist Vorsicht geboten, damit man am Ende doch nicht nur einseitig informiert ist, denn auch internationale Medien schießen gerne scharf auf Recep Tayyip Erdogan. Und selbst für Kenner dieser Vokabeln und fachkundige Politologen werden Fragen offen bleiben, deren Antwort wir wahrscheinlich niemals erfahren werden. Zum Beispiel, ob der Putschversuch nun tatsächlich von Fethullah Gülen mit Unterstützung der CIA eingeleitet wurde, oder doch auf eigene Faust von ranghohen Offizieren oder aber eben von Erdogan  selbst inszeniert wurde.  Er ist immerhin momentan der größte Nutznießer dieser Aktion und es gibt ein Resultat. Das ist Fakt.

Emrah Gurel / AP / picturedesk.com

Das gedemütigte Heer

Das Resultat ist ein Recep Tayyip Erdogan, der ohne rechtliche Grundlage Justizbeamte, Journalisten und Heerespersonal und alle ihm nicht loyal erscheinenden Funktionäre im Apparat Türkei austauscht, wegsperrt oder sonst irgendwie ausschaltet. Einen Tag nach offizieller Beendigung des Putschversuchs waren bereits tausende Personen vom Dienst suspendiert.

Ein weiteres Resultat sind Bilder in den Medien und den Köpfen der Menschen von jungen türkischen Soldaten mit der türkischen Flagge an der Brust, die nun vom Volk und den Staatsmedien als Verräter abgestempelt werden. Aufnahmen zeigen wie Offiziere, die jahrelang die Wächter dieses Staates waren, mit Kabelbindern fixiert und abtransportiert werden. Das Militär wurde in den vergangenen Jahren politisch entmachtet. Jetzt wurde auch das Ansehen der “Mehmetciks” (so werden junge Rekruten genannt) komplett beschädigt.  Normalerweise verabschiedet man diese Soldaten zum Heeresdienst mit der Pflicht, dass die Ruhe und Sicherheit des Landes auf den Schultern der Mehmetciks lastet.

Der Respekt gegenüber dem Heerespersonal stand einst ganz oben. Nicht etwa aus Angst, sondern weil es als besonders würdevoll galt, ein Mitglied der türkischen Armee zu sein. Dieses Bewusstsein wurde nachhaltig geschädigt. Ein weiteres Resultat ist, dass im Land eine Atmosphäre des Bürgerkriegs geschaffen wurde: Regierungsloyale Türken, die sich selbst als eine aufstrebende Macht sehen und ihre Positionen mit jedem Mittel verteidigen gegen die anderen aufständischen Türken, die wiederum immer mehr eine sich isolierende Türkei kommen sehen und nicht mit den Entwicklungen leben möchten. 

Türkische Flagge als Profilbild

Diese zwei Seiten finde ich auch auf meiner persönlichen Facebooktimeline wieder.  Wüste Beschimpfungen und Auseinandersetzungen finden statt, weil es zu verschiedenen Ansichten kommt. Jeder sieht seine eigene Wahrheit, gestützt von Scheinfakten und Theorien.

Nur eines verbindet sie: Beide Seiten benutzen die türkische Flagge als Profilbild, um sich zu positionieren und zu zeigen

“ Wir sind die wahren Türken.” 

Teoman Tiftik, 27, Forbes-Marketing & Biber-Redakteur