„Zieh dich mal an wie eine richtige Frau“

02. Juni 2023
Oversized Klamotten sind voll im Trend. Was für viele derzeit angesagte Mode ist, ist für ausländische Mütter jedoch ein Zeichen von Männlichkeit und Widerstand. Widerstand gegen ihre Werte und Schönheitsideale einer „perfekten“ Frau. Aber wer bestimmt eigentlich, wer was tragen darf?
 
 
Von Helin Kara, Fotos: Zoe Opratko
 
Empowerment Special, Helin Kara, Zieh dich mal an wie eine richtige Fau
© Zoe Opratko
 
Samstagabend, 18 Uhr. Die abgestandene Luft macht das Atmen schwerer und irgendwie sieht meine Haut im grellen Licht der Umkleidekabine noch schlechter aus. „Canım (türkisch „mein Schatz“), hast du das Kleid schon angezogen?“, schallt die Stimme meiner Mutter durch die Tür. Der Lärm des Kleidungsgeschäfts wird immer lauter, dröhnt geradezu in meinen Ohren. Im Spiegel sehe ich zwar mein Abbild, aber versuche vergeblich mich in diesem zu finden. „Jetzt stell dich nicht so an, auf Hochzeiten trägt man als Frau halt ein Kleid“ – ist die einzige Antwort die ich auf meine Frage, ob ich unbedingt ein Kleid anziehen muss, erhalte. Es wird weiter geschaut, mein persönlicher Albtraum ist noch nicht vorbei. Besonders bei Hochzeiten ist ein angemessenes und weibliches Auftreten von Bedeutung, die Verwandtschaft soll ja immerhin kein schlechtes Bild von unserer Familie im Kopf haben – eingetrichtert wird mir das, bis ich es selbst glaube. Aber was ist dieses „weibliche“ Auftreten eigentlich?
 
Boyfriend-Jeans, Hoodies in XXL-Größen und baggy Shirts – beim Scrollen durch die sozialen Medien ist es eine Challenge geworden, auf die damals beliebten Skinny-Jeans zu treffen. Oversized Klamotten sind, besonders bei Frauen, voll im Trend. Was für viele derzeit angesagte Mode ist, ist für ausländische Mütter jedoch ein Zeichen von Männlichkeit und Widerstand. Widerstand gegen ihre Werte und Schönheitsideale einer „perfekten“ Frau. Wie Sätze wie „Zieh dich doch mal schöner an“ und „Was denken die anderen von uns, wenn du wie ein Mann rumläufst?“ regelrecht zu einer Routine in meinem Alltag wurden.
 
Empowerment Special, Helin Kara, Zieh dich mal an wie eine richtige Fau
© Zoe Opratko
 
Die „perfekte“ Frau
Beim Anblick meiner alten Kinderbilder müsste man beide Augen zudrücken, um mich in dem pinken Shirt mit der Aufschrift „I am a Princess“ wieder zu erkennen. Diese hyperfeminine Version von mir existierte, da mit vier Jahren meine Entscheidungskraft dezent eingeschränkt war. Kleider, Röcke und viele pinke Kleidungsstücke schmückten meinen Kleiderschrank, während mein Bett mit Barbies und Baby Born Puppen vollgestellt war. Rückblickend sind diese Bilder befremdlich und spiegeln mein jetziges Ich nicht wider. „Du sahst doch so süß aus damals“, ist das Einzige, was aus der Zeit hängen geblieben ist. Bei meinem Bruder sah die Sache anders aus. Hier dominierten Autos und Fußbälle sowie die Farbe Blau. Zwei Welten, welche klar getrennt wurden. Eine Grenzüberschreitung führte zu einem kurzen: „Das ist nur für Jungen/Mädchen bestimmt.“
 
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© Zoe Opratko
 
Bereits in jungen Jahren wird auf eine möglichst große Distanz zwischen Jungen und Mädchen geachtet, nicht nur was das Äußerliche betrifft. Aussagen variieren von „Ein wahrer Indianer kennt kein Schmerz“ bis hin zu „Diese vorlaute Art gehört sich für jemanden wie dich nicht“. Ersteres wird an Jungen vermittelt, welche möglichst emotionslos und „stark“ erzogen werden, um ihre Männlichkeit zu wahren und Dominanz zu erlernen. Letzteres sind Sprüche, die besonders junge Mädchen zu hören bekommen, um durch ein ruhiges und passives Verhalten – ganz „lady-like“ – nicht aufzufallen und sie klein zu halten. Die „perfekte“ Frau ist also möglichst gehörig und feminin in ihrem Auftreten. Anders wird es schwierig, einen Mann zu finden – so jedenfalls habe ich es gelernt.
 
„Du bist so ein Mannsweib“
Als ich älter wurde, habe ich mir ein Stück weit Freiheit zurückerkämpft. Meine Eltern merkten wohl, dass sie nicht ewig meinen Kleidungsstil beeinflussen konnten, weshalb ich jetzt mit Freunden shoppen ging und auch in den Genuss der Männerabteilung kam. Normalerweise wären Klamotten aus dieser, egal wie Unisex sie aussehen, ein absolutes No-Go. Zum ersten Mal fühlte ich mich jedoch komplett wohl mit meinem Aussehen und meinem Stil. Das hielt aber nur so lange, bis die ersten Kommentare zu meiner Kleidung und meinem Verhalten fielen. Besonders in der Schule kamen von den Jungs aus meiner Stufe öfters Sprüche wie „Du verhältst dich schon wie so ein Mannsweib“ oder „Bist ja auch einer von uns Jungs“. Manche Verwandte waren ebenso wenig angetan von meinem neuen Stil, was dazu führte, dass ich die Frage „Wieso ziehst du nicht so einen schönen Rock an im Sommer?“ öfter zu hören bekommen habe als ein Kompliment.
 
Empowerment Special, Helin Kara, Zieh dich mal an wie eine richtige Fau
© Zoe Opratko
 
Die Sprüche nicht zu nah an sich ranzulassen, war schwerer als gedacht. Frustration breitete sich in mir aus: Immerhin fühlte ich mich trotzdem wie eine Frau und meine Weiblichkeit aufgrund meines Klamottenstils abgesprochen zu bekommen, passte mir gar nicht. In kurzer Kleidung, wie beispielsweise bauchfreien Shirts, die die Frauenabteilung dominieren, fühlte ich mich einfach nicht so wohl wie in längeren T-Shirts. Außerdem spiegelt mein Stil meinen Charakter wider und mit einem sehr femininen Look fühle ich mich nicht wie ich selbst.
 
Empowerment Special, Helin Kara, Zieh dich mal an wie eine richtige Fau
© Zoe Opratko
 
Aber wer bestimmt eigentlich, was männlich oder weiblich ist?
Die negativen Kommentare an mir abprallen zu lassen, war ein langer Prozess. Vielleicht sogar einer, der noch nicht ganz geendet hat. Es ist wichtig, sich immer wieder daran zu erinnern, dass nur du über dein Aussehen bestimmst und nicht deine Eltern oder die Menschen in deinem Umfeld. Setz dich breitbeinig hin, rede in einer tiefen Stimme, zieh an, was du anziehen möchtest, egal aus welcher Abteilung. Zeig Widerstand. Im Endeffekt sind unsere binären Rollenzuteilungen einschränkend und veraltet. Kleidung hat kein Geschlecht und das Wichtigste ist, dass du dich in deiner Haut wohl fühlst, und das ganz egal, ob in XL-Hoodie oder Blümchenkleid. ●
 
 
Helin Kara ist 21 Jahre alt. Sie studiert Publizistik- und Kommunikationswissenschaft, hat kurdisch-alevtische Wurzeln.

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