„Das wird man ja wohl noch sagen dürfen!“ – aber musst du auch?

23. Juni 2022

Wieso haben immer Nicht-Betroffene eine „Meinung“ dazu, was diskriminierend, sexistisch oder rassistisch ist? Wieso brauche ich eine Meinung zu haben, wenn ich keine Ahnung habe? Die ewig gleichen Diskussionen in den ewig gleichen Kreisen Nicht-Betroffener sind nur mehr lächerlich – auch bei ihr selbst, findet Chefreporterin Aleksandra Tulej.

Wir schreiben das Jahr 2002, ich bin 10 Jahre alt und sitze gemeinsam mit gleichaltrigen Mädchen in einem Sesselkreis im Pfarrhaus einer Kirche im dritten Bezirk. Wir haben wie jeden Mittwoch Jungschar-Stunde: Es werden Spiele gespielt, es wird gemeinsam gebetet und über wortwörtlich Gott und die Welt diskutiert. Heute greifen die Leiterinnen und der anwesende Priester das Thema Homosexualität auf. „Die Ehe gibt es nur zwischen Mann und Frau, alles andere ist nicht richtig“, bekommen wir zu hören. Damals war Österreich noch Jahre entfernt von der Ehe für alle, eingetragenen Partnerschaften und den Begriff LGBTQIA+ kannte man auch nicht. Ich zeige auf und frage prompt: „Aber wieso genau dürfen nicht zwei Männer heiraten? Warum stört das irgendwen?“ Mein Einwurf wird mit einer religiösen Begründung abgetan. Ich erinnere mich noch zu gut an den Heimweg, als ich auf meinem Mini-Scooter heim düse, und an meine sehr kindlichen und einfachen Gedankengänge: „Was schadet es denn Mann-und-Frau-Ehepaaren (der Begriff hetero war damals in meinem Wortschatz nicht existent), wenn andere Männer einen Mann heiraten oder andere Frauen eine Frau? Wieso ist das so schlimm? Verstehe ich nicht, mich stört das nicht.“ In meinem kindlichen Kopf und Weltverständnis habe ich damals die Diskriminierung aller LGBTQIA+-Personen weltweit gedanklich gelöst: „Wenn bloß alle so denken würden.“ Weiter als das dachte ich damals nicht.

„Das ist nicht rassistisch gemeint“

Zu meiner Schulzeit wurden Themen wie Diskriminierung, Rassismus, Privilegien und marginalisierte Gruppen nur sehr spärlich behandelt. Es gab keine Awareness und Bewusstseinsschaffung wie heute. Deshalb kam es mir damals auch nicht in den Sinn, dass die Denkweise „Was mich nicht betrifft, stört mich nicht“ bei weitem nicht ausreicht. Aber das verzeihen wir meinem 10-jährigen Ich an dieser Stelle bitte. Was ich der Gesellschaft und auch mir selbst allerdings nicht verzeihen kann, ist, dass es so viele Jahre und so viel Arbeit anderer gebraucht hat, bis dieses Bewusstsein auch nur irgendwie in die Köpfe eindringen konnte. Heute haben wir keine Ausreden mehr. Von der Religion und vom Glauben habe ich mich seit Jahren abgewandt, aber das ist ein anderes Thema. Die Begründungen dafür, warum jemand diskriminiert oder nicht diskriminiert wird, brauchen auch keine Religion als Ausrede. Aber sie kommen von den immer gleichen Menschen: jenen, die nicht davon betroffen sind. „Ich finde das nicht rassistisch!“, sagt eine weiße, blonde Frau. „Das ist nicht sexistisch!“, schreit ein Mann. „Darüber wird man ja wohl noch diskutieren dürfen. Man kann über alles diskutieren!“ – Können ja. Aber müssen wir das auch? Erstens gibt es Themen, die indiskutabel sind. Und vor allem: Wer braucht das? Wer braucht die Position nicht-betroffener Menschen? Das führt nur dazu, dass sich erst wieder alles im Kreis dreht. Was auch oft außer Acht gelassen wird, ist das Strukturelle. Ich selbst bin eine migrantische Frau. Aber ich bin nicht als solche sichtbar, ich könnte locker als autochthone Österreicherin durchgehen. Deshalb und wegen anderer äußerlicher Faktoren, auf die ich keinen Einfluss hatte, habe ich keine oder nur sehr spärliche Erfahrungen mit Diskriminierung aufgrund meines Migra-Backgrounds gemacht. Ich bin hier nicht repräsentativ und werde es auch niemals sein. Ich weiß, dass es sehr vielen anderen sehr anders ergeht als mir - meine Erfahrungen sind hier deshalb nicht relevant. Und weiter: Dieser inflationäre Gebrauch von „Meinung“ hat vor allem seit der Pandemie wirklich ausgedient: Wieso belächelt die Gesamtgesellschaft kollektiv Coronaleugner:innen, die auf anekdotischer Evidenz basierend ihre eigenen Wahrheiten zusammentrommeln, aber nicht Talk-Show-Runden, in denen fünf weiße Menschen über Rassismus und Kopftuchverbot diskutieren?

Deine „Meinung“ ist hier mal nicht relevant

Vor allem als Journalist:in stellt man sich die Frage, wer über wen und wie schreiben darf und soll. Das ist gar nicht so schwer: Als Sprachrohr für jene, die es nicht können oder wollen, immer. Als bevormundende Person von Außen die nicht genug Ahnung hat, bitte nicht. Lasst es doch die Betroffenen selbst schreiben. Sie werden es eh besser machen als ihr. Wieso sollte ich mich als weiße, atheistische, hetero cis-Frau hinstellen, und darüber diskutieren, ab wie vielen Jahren Frauen ein Kopftuch tragen dürfen? Einem/r POC erklären, dass etwas „nicht rassistisch gemeint“ ist? Einer queeren Person ihre Erfahrungen absprechen, indem ich ihr erkläre, dass Österreich „eh ur progressiv ist, was sowas angeht.“ All das und mehr habe ich in den letzten Jahren in meinem Umfeld mitbekommen und mich  selbst dabei erwischt, in diesen Kategorien zu denken – ich nehme mich hier nicht raus. Wir haben es vor allem in den letzten Jahren betroffenen Menschen zu verdanken, die uns mit - oft unbezahlter - Arbeit aufgeklärt, auf Fehler hingewiesen und ihre Erfahrungen geteilt haben: ob Sexismus, Rassismus, Queerfeindlichkeit oder anderen Diskriminierungsformen. Ist das wirklich so schwer, betroffenen Menschen zuzuhören und ihre Sichtweise ohne Wenn und Aber anzunehmen? Scheinbar. Weil vor allem wir vorrangig weiße, privilegierte - es ist eben so-- Menschen es nicht gewohnt sind, dass unsere „Meinung“ einmal nicht relevant ist. Dass wir uns nicht überall hineinpferchen müssen und unsere Standpunkte zu jedem Bereich abgeben. Ist das unangenehm zu lesen? Soll es auch. Aber warum? Weil viele Angst haben, dass ihnen etwas „weggenommen“ wird? Was genau will euch irgendwer wegnehmen? Genau nichts. "Aber das wird man ja wohl noch sagen dürfen“ – diese ausgelutschte Floskel hat echt schon ausgedient. Wer entscheidet denn, was man sagen darf? Strukturell gesehen wieder jene Menschen, die nicht betroffen sind. Und wieder drehen wir uns im Kreis. Wieso brauche ich überhaupt eine „Meinung“ zu haben, wenn ich keine Ahnung habe?

"Will die jetzt, dass wir klatschen, weil sie das Offensichtliche niederschreibt?" 

Anstatt den Mund aufzureißen, ist es meine Aufgabe hier, besagte Ahnung zu bekommen. Und nicht Parallelen zu suchen, weil „ich bin ja auch wegen Grund XY betroffen“. Es geht hier nicht um den „Opferrolle-Battle.“ Es geht nicht darum, wer „es schlimmer hat“ - sondern es geht darum, verdammt nochmal vom hohen Ross, das wirklich schon ausgedient hat, runterzusteigen und jenen die Bühne zu bieten, die es verdient haben und relevant sind. Es ist längst überfällig.Und was genau ihr jetzt damit anfangen sollt, fragt ihr euch? "Will die jetzt, dass wir klatschen, weil sie das Offensichtliche niederschreibt?" Nein. "Will sie uns, jene, die das "eh nicht so meinen", angreifen?" Könnt ihr selbst entscheiden. Aber einen Tipp hätte ich: Ihr könntet zum Beispiel den Gedanken Eva Reisingers in ihrem klugen Kommentar für das BAM-Magazin "Warum man in Österreich ja gar nichts mehr sagen darf (und das gut so ist)“ folgen. Hier ein Auszug: „In Wahrheit gibt’s keine neue Diskussion darüber, was man heute noch sagen darf und was nicht. Dazu gibt es schon lange Regeln, nur dass man diese mittlerweile auch in der Sprache mitdenkt. Denn heute wissen wir, dass Rassismus, Sexismus und Homo- und Transfeinlichkeit Menschen töten. Wer sich also fragt, ob man dieses oder jenes noch sagen darf, kann sich selbst eine kurze Testfrage stellen: Verletze ich mit dieser Aussage die Würde eines Menschen? Wenn nein, fein. Wenn ja, sei kein Vollkoffer und entwickle dich.“

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