Ein Abschiedsbrief an 1030 Wien

30. Januar 2016

Ich habe gerade eine Trennung hinter mir. Es war meine bisher längste Beziehung. Meine erste große Liebe. Ganze siebzehn Jahre hat sie gedauert. Die Trennung war nicht freiwillig, ich habe sie dennoch zurücklassen müssen: die Wohnung, in der ich siebzehn Jahre lang aufgewachsen bin. Die Wohnung, in der ich gewohnt habe, seitdem ich als sechsjähriges Kind nach Wien gezogen bin. Die Wohnung in 1030 Wien, die für mich der Inbegriff der Bezeichnung „Zuhause“ war und immer noch ist. Diese Wohnung gibt es nicht mehr.

Es war eine Fernbeziehung mit Ablaufdatum.

Ich bin eigentlich schon vor ein paar Monaten ausgezogen. Die neue Wohnung war bis jetzt aber eher eine Affäre, eine von vielen, die noch kommen werden. Ich bin eine Zeit lang doppelgleisig gefahren, ich gestehe. Die alte Wohnung und ich haben eine Fernbeziehung geführt, bevor es endgültig aus war. Doch wir wussten, dass diese Liebe ein Ablaufdatum haben würde. Es war ganz wie in einem Roman aus dem 18. Jahrhundert – die Eltern waren dagegen. Sie beschlossen, ihre sieben Sachen zu packen, und sich wieder in die alte Heimat, nach Polen, zu begeben. Die Wohnung und ich wussten beide, dass es so kommen würde, wir wurden vorgewarnt. Ich weiß nicht, wie es der Wohnung dabei geht, da wir ja keinen Kontakt mehr haben, aber ich vermisse sie. Am Ende unserer Beziehung konnte ich sie trotzdem immer noch besuchen kommen, auch wenn ich das Gefühl hatte, dass es immer leerer, kälter und dunkler dort wurde - genau wie in meinem Herzen -  bis sie ihre Tore für immer und ewig vor mir verschlossen hat. Und nun sitze ich in meiner neuen Hood vor den letzten Umzugskisten aus 1030 und schwelge in Erinnerungen. Eines der ersten Dinge, an die ich mich in dieser Wohnung erinnern kann, ist, dass ich dort Schreiben gelernt habe. Ich ging in die erste Klasse Volksschule. Ich bin an meinem kleinen Schreibtisch gesessen, und habe brav Buchstaben in das fünfzeilige Heft eingefüllt, obwohl ich damals noch kein Wort Deutsch konnte. Aber irgendwas muss ich anscheinend richtig gemacht haben. In demselben Zimmer habe ich auch versucht, mir selber Zaubern beizubringen - was Harry Potter kann, kann ich auch. Ob es dann geklappt hat, werdet ihr wohl nie erfahren.

Die erste Homeparty und Rotweinflecken

Dann folgten das erste Türeknallen, die ersten kläglich gescheiterten Schminkversuche, die ersten ewig langen Tagebucheinträge über das harte Leben einer Dreizehnjährigen, der erste Liebeskummer - nein, Spaß, den hatt’ ich nie, dafür war ich zu cool. Ein cooler Rebell eben, sieht man auch an den Fotos von damals, Vans-Schachbrett-Gürtel und wundervolle Schweißbänder mit Totenköpfen haben mich auf diesem Wege begleitet. Aber am Ende dieses Weges, oder eben jedes Tages, war dann mein Zimmer. In meiner alten Wohnung. In der Wohnung, in der ich auch meine erste Homeparty geschmissen habe, als meine Eltern zum ersten Mal weg waren. Die sind übrigens bestimmt auch noch heute davon überzeugt, dass die Rotweinflecken bloß Johannisbeersaft waren und dass sie die Asche unter den Fenstern mit Blumenerde verwechselt haben. Ganz bestimmt. Die drei Fenster im Erker des Wohnzimmers, unter denen ich immer gerne Blumenerde verstreut habe. Weil meine Freunde und ich uns als Teenager gerne um Pflanzen gekümmert haben. Immerhin ist dieser Teil nicht gelogen.

Avril-Lavigne Plakate und Pratersaunafotos

Ich habe in dieser Wohnung also wie man sieht meine ganze Entwicklung vom ersten herausgefallenen Zahn bis zum ersten betrunken-heimkommen-erwischt-Werden durchgemacht. In meinem Zimmer ist nach siebzehn Jahren kein freier Fleck mehr an den Wänden gewesen, da ich mich oft und gerne künstlerisch verausgabt habe. Ja, ich habe meine Wände einfach so mit Farbe angemalt, oder mit Spraydosen besprüht. Im Laufe der Jahre wurden die Tierposter durch Avril Lavigne-Plakate ersetzt, und zum Schluss haben Pratersauna-Fotoautomat-Fotos den Platz an der Wand übernommen. Es war dort jedenfalls alles vollgemalt, vollgeklebt und vollgestopft. Hat eh nicht schön ausgeschaut, falls sich wer fragt. Aber ich habe mich in diesem Zimmer pudelwohl gefühlt. Liebes Wien 1030, es war mir ein Volksfest. Die fünf Minuten zu Fuß zum Prater, den Arenbergpark, den Wien-Mitte-Spar, der bis elf offen hat, meinen Stamm-Döner-Verkäufer, die Nachbarn, die immer so lauten Sex hatten, die unfreundliche Zielpunktverkäuferin vom Rochusmarkt - ich werde das alles vermissen. Aber zeitgleich mit der Zielpunkt-Ära  ging auch meine Ära im Dritten zugrunde. Auch wenn ich jetzt Bezirksverrat begangen habe, werde ich im Herzen immer ein 1030-Kind bleiben. Und wenn ich mal groß bin, ziehe ich wieder zurück in die alte Hood, in eine Altbauwohnung mit hohen Wänden und einem Erker. Damit ich dort meine Blumenerde verstreuen kann. Bis dahin bleibt mir nur eines zu sagen: Wien 1030, ich werde dich vermissen.

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