Interview Emina Šarić: „Erst das Bewusstsein, dass es wehtut, führt zum Erwachen.“

10. März 2021

Die Projektleiterin und Bildungsmanagerin im Verein für Männer– und Geschlechterthemen Emina Saric beschäftigt sich schon lange mit genderspezifischen Themen. Wir hatten die Möglichkeit, mit ihr über Mutter-Sohn-Beziehungen, Geschlechterverständnis und Machtgefälle in Beziehungen zu sprechen.

Biber: Was wird zu Gewalt an Frauen gezählt?

Emina Saric: Formen von Gewalt äußern sich häufig in zwischenmenschlichen Beziehungen, in denen viele Menschen die Begriffe „Respekt und Augenhöhe“ missverstehen. Denn viele Männer, aber auch Frauen, gehen von der „männlichen Ordnung“ der Welt aus, nach der das männliche Geschlecht als selbstverständlich vorherrschend wahrgenommen wird. Dies führt in der Sozialisierung und Erziehung der Burschen sehr oft zur narzisstischen Entwicklung. Mütter kompensieren ihre meistens schmerzhafte gesellschaftliche Abwertung mit dem Wunsch, durch den Sohn an der Macht des Patriarchats teilhaben zu können, woraus eine Idealisierung der Burschen resultieren kann. Andererseits unterdrücken Frauen und Mädchen häufig ihre eigenen Bedürfnisse, um beispielsweise eine Familie zu gründen oder „nur“ geliebt zu werden. Sie werden vorbereitet, die „weiblichen“ Rollen zu leben. So wird schon die Grundlage der Beziehung zwischen den Geschlechtern schief angesetzt.

 

Blöd gefragt: Wieso werden Frauen von Männern ermordet?

Ich gehe davon aus, dass dieses schief angesetzte Geschlechterverständnis zu Missverständnissen in Beziehungen führt. So wird Männlichkeit oft als Stärke, Dominanz oder Potenz wahrgenommen. Diese vermeintlich männlichen Eigenschaften werden in der Gesellschaft leider noch immer honoriert, was einen kollektivistischen Druck erzeugt, das vermeintlich „ideale“ Bild des Mannes erreichen zu müssen. Auf der anderen Seite werden Frauen und ihre Körper zum Objekt gemacht, also auch als Besitztum wahrgenommen. Wenn sich Frauen als "Objekte“ mit Recht emanzipieren und zum Bewusstsein erlangen, werden sie auch versuchen, sich von der Dominanz zu befreien. Diese Emanzipation der "Objekte" wird als Verlust seitens des Mannes erlebt und führt zur narzisstischen Kränkung, die viel Gewaltpotenziale in sich birgt. Wenn man keine Tools und Strategien erlernt hat, um diese Kränkung zu überwinden , wandelt sich Kränkung zu Gewaltpotenzial. Es kommt zu tatsächlicher Gewalt, bis zum Mord.

 

Was sind die Warnzeichen für möglicherweise bedrohte Frauen und welche Schritte können Betroffene einleiten?

Warnzeichen gibt es viele und sie sind von unterschiedlichen Faktoren abhängig. Vorsicht ist geboten, wenn Frauen finanziell, strukturell oder emotional von ihren Partnern abhängig sind. Abhängigkeit schafft häufig dieses schiefe Machtgefälle, aus dem sich das Recht der Stärkeren herausfiltern kann. Gewalt beginnt schon durch die Sprache und dem Umgang miteinander. Betroffene sollten sich bei Gewalterfahrung in erster Linie Hilfe holen, denn die Unterstützung durch soziale Netzwerke und Berater*innen ist hier notwendig und lebenswichtig.

 

Haben Frauen manchmal Hemmungen, Anzeigen zu erstellen? Wirkt sich das auf die Dunkelziffer aus?

Ja, auf jeden Fall. Viele Frauen und Mädchen, die unterschiedliche Gewaltformen erleben, können oder wollen es zuerst nicht erkennen. Diejenigen, die von Gewalt nicht betroffen sind, versuchen es oft zu verharmlosen, bis sie eine solche Situation selbst erleben. Erst das Bewusstsein darüber, dass etwas weh tut und mit unserem Selbstwert zu tun hat, führt zum Erwachen.

Ferner sind es Behörden, die in dem Bereich nicht sensibilisiert sind und manche Gewaltformen nicht als Anzeichen einer Gewaltwelle sehen. Da ist wichtig, dass sich Polizist*innen und Jurist*innen in diesem Sinne schulen, damit es nicht zur Abwertung oder Verharmlosung der Betroffenen kommt.

 

Wie hat sich die Lage pandemiebedingt verändert? 

Die notwendigen Schutzmaßnahmen in Zeiten des Coronavirus können leider verstärkt das Vorkommen aller Gewaltformen zur Folge haben. Daher ist es jetzt wichtiger denn je, Menschen auf diese Vorkommnisse sowie auf verstärkte Gewaltformen vorzubereiten und zu sensibilisieren. Frauen erfahren durch die Pandemie Mehrfachbelastung, Alleinerziehende sind Verarmung ausgesetzt. Die plötzliche Einengung familiärer Verhältnisse kann schnell zu aggressivem Verhalten führen. Eine verstärkte Kontrolle über Mädchen und Frauen folgt, da weniger Einblicke in die familiäre Situation möglich sind. Ebenso dürfen psychisch belastende Situationen, wie die unerwünschte Begleitung durch männliche Familienmitglieder bei Spaziergängen oder die Kontrolle der Mädchen in sozialen Medien durch die verstärkte Präsenz aller Familienmitglieder nicht unterschätzt werden.

 

Was tut der Staat Österreich und was kann er noch tun?

Die Pandemie erschüttert viele in den letzten Jahrzehnten erkämpften Errungenschaften und zeigt uns deutlich, dass sie verteidigt und weiterentwickelt werden müssen. Gleichstellungsfragen wie ungleiche Verteilung unbezahlter Arbeit, Lohngefälle, berufliche Aufstiegschancen von Frauen oder die Väterkarenz sind sowieso in der letzten Zeit in den Hintergrund geraten. In der Pandemie treten sie intensiver hervor. Der Staat muss dieses Ungleichgewicht ernst nehmen und Menschen– und Frauenrechte durchsetzen. Gerade Frauen, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, sollten durch staatliche Gesetze und deren konsequente Durchsetzung vor Gewalt geschützt werden und keinen Millimeter zurückweichen.

Emina Saric
Foto: Emina Saric

 

Zu Emina Saric: 


  • Lehrende am Ausbildungszentrum für Sozialberufe, Caritas Graz
  • Bildungsmanagerin an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule in Graz
  • Mitglied des Expertenrates für Integration
  • Vorsitzende des Aufsichtsrates des Österreichischen Fonds zur Dokumentation von religiös motiviertem politischem Extremismus (Dokumentationsstelle Politischer Islam)
  • Gründungsmitglied "Terre des Femmes" in Wien

 

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