"Ich bin eigentlich ganz anders...

18. Januar 2016

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corti vinzirast obdachlose
Foto: Vadim Belokovsky

...nur komme ich so selten dazu“, zitiert Cecily Corti, die Gründerin der Wiener Obdach- und Heimtatlosenstelle VinziRast, den österreichisch-ungarischen Schriftsteller Ödön von Horváth bei unserem Interview. Sie erzählt von ihrer neu erschienenen Biografie, der Notwendigkeit, sich von gesellschaftlichen Erwartungen zu befreien und warum die Liebe die Welt im Innersten zusammenhält.

 

Man muss auf dem Grund gewesen sein. So heißt Ihr neu erschienenes Buch. Was ist dieser Grund, von dem Sie sprechen? 

Es geht um die Essenz des Lebens. Jenseits von Vorstellungen, Erwartungen und Projektionen. Unterschiedliche Hindernisse und Stolpersteine des Lebens zu konfrontieren und sie nicht vermeiden zu wollen, sondern durch sie durchzugehen und dadurch mehr über sich selbst zu erfahren und so, wenn man Glück hat, einen Boden zu finden, der trägt. 

 

In Ihrer Biografie sprechen Sie von der Liebe. „Es ist die Liebe, die die Welt im Innersten zusammenhält“. Kommt daher Ihr Drang, den Menschen zu helfen? 

Ich denke, die Liebe ist tief in uns verankert. Kürzlich habe ich irgendwo gelesen: Zu lieben ist die einzig angemessene Form zu existieren.  Es ist befreiend, sie einfach fließen zu lassen. Im Grunde sehnen wir uns alle danach. Den Drang zu helfen hatte ich nicht. Eher eine Sehnsucht nach Gemeinschaft  – und nach einer besseren Welt, und was ich dazu beitragen kann. 

 

In den 1980er Jahren haben Sie in Paris in Coeur des femmes – einer Einrichtung für Frauen, die auf der Straße lebten - gearbeitet. Wie war das damals für Sie? 

Das war eine extreme Herausforderung. Ich war überhaupt nicht vorbereitet darauf. Die Welt der Straße war mir gar nicht vertraut. Es war sehr schwierig, aber auch spannend, mich damit auseinanderzusetzen und herauszufinden, wie ich persönlich mit solchen Situationen umgehe. Jeder Augenblick forderte meine totale Präsenz. 

 

Sie halten nichts von Mitleid. Zwischen Mitleid und Mitgefühl besteht aber eine feine Linie. Worin sehen Sie den Unterschied? 

Ich denke, für Mitgefühl muss ich vor allem Schmerz, Verlust oder auch Ratlosigkeit in mir selbst zulassen und aushalten. Dann lerne ich zuzuhören und kann allmählich mit anderen mitfühlen. Dabei ist es wichtig, mich nicht in den Anderen hinein zu begeben, mich mit dem Schmerz des Anderen zu identifizieren. Bei mir selbst zu bleiben und den Schmerz des Anderen zu fühlen. Von Mitleid hat der Andere nichts.  

 

Die VinziRast-Einrichtungen zeichnen sich durch ihre Saubarkeit und Frische aus. Wie wichtig ist es Ihnen, dass die Menschen, die bei Ihnen untergebracht sind, würdevoll behandelt werden? 

Was sind die Grundbedingungen, um mich als Mensch zu fühlen? Wie möchte ich behandelt werden? Was verletzt mich im Innersten? Es darf niemals der Gedanke aufkommen: Für Obdachlose ist das gut genug! Sauberkeit, ordentliche Betten, Blumen, helle Räume – das trägt alles dazu bei, Wertschätzung auszudrücken. Neben der Qualität der Beziehung, die für uns das Wichtigste ist. 

 

In Ihrem Buch sprechen Sie von der bedingungslosen Akzeptanz und der Sünde der Distanz. Sie müssen aber oft Menschen wegschicken, wenn kein Bett für sie frei ist. Stoßen Sie da manchmal an Ihre moralischen Grenzen? 

Mit Moral hat das nichts zu tun. Natürlich fällt es uns oft sehr schwer, Menschen wieder auf die Straße, in die Nacht zu schicken. Aber ich kann die Welt nicht retten. Ich tue das, was ich tun kann. Und da gibt es einfach Grenzen. Es ist aber auch wichtig, dem Einzelnen die eigene Kompetenz zuzugestehen. Menschen haben unglaubliche Überlebensstrategien. Ich habe großes Vertrauen in die Ressourcen des Einzelnen. 

  

Glauben Sie, dass Menschen im Einzelnen viel bewirken können? Oder bedarf es eines Kollektivs, damit sich Dinge tatsächlich ändern? 

Ich bin von der Wirkung des Einzelnen überzeugt. Daraus entstehen viele kleine Zellen. Diese vernetzen sich und bewirken dann schlussendlich eine Veränderung der Gesellschaft. Ich glaube nicht an Ideologien. Wir wissen, wohin sie im vergangenen Jahrhundert geführt haben. Jeder Mensch muss für sich herausfinden, woran er glaubt, was das Leben für einen selbst kostbar macht, um diese Wirklichkeit in sich und um sich herum zu schaffen. Das hat Wirkung. Wenn ich der Politik und den Institutionen die Verantwortung überlasse, ändert sich nichts. Im Gegenteil, es mindert meine Würde. 

 

 

 

 

Infobox:

Man muss auf dem Grund gewesen sein

corti vinzirast obdachlose

 https://goo.gl/dBc2yl, Brandstätter Verlag 2015

Aufgezeichnet von Jacqueline Kornmüller
160 Seiten, 19,90 Euro

 

VinziRast-CortiHaus und 
VinziRast-Notschlafstelle


Wilhelmstr. 10, 1120 Wien

Tel/Fax 01/810 74 32
cortihaus@vinzirast.at

 

Einlass Notschlafstelle täglich 
von 18:30 - 21:00 Uhr
 

VinziRast-mittendrin
Lackiererg. 10, 1090 Wien

Tel. 01/23 50 772 -16 (Büro)

mittendrin@vinzirast.at



Lokal "mittendrin"


Währingerstr. 19, 1090 Wien

Tel. 01/23 50 772 -14
lokal-mittendrin@vinzirast.a

 

Fotograf: http://belokovsky.com/

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