"Ich vermisse den Wiener Alltagsrassismus nicht"

16. Februar 2016

Gregor, ein Wiener, der nach London mit seiner Band zog, um einen musikalischen Durchbruch zu erlangen, erzählt, was ihm an Wien fehlt, was eher nicht, und warum die Musikszene in London besser als in Wien ist.

Ø​  Woran hat es in der musikalischen Szene in Wien gefehlt, dass ihr euch entschieden habt, London wäre eine bessere Wahl? War die Musik der einzige Grund?

In vier Jahren in Wien, in denen Patrick, Simon und ich gemeinsam Musik gemacht hatten, waren unsere musikalischen Anstrengungen nur von mäßigem Erfolg gekrönt. Wir hatten ein Rock Projekt (Business Socks, https://www.youtube.com/user/businesssocksmusic) und eine Pop Band (Definitely A Yes, https://soundcloud.com/definitelyayes). Das lag wohl an mehreren Dingen:
1. Unsere Lyrics waren auf Englisch: Das klingt erst mal banal, wenn man daran denkt, dass “eigentlich eh alle englisch sprechen”. Aber es ist nun mal nicht die Muttersprache, daher kann man zu Liedertexten auf Deutsch viel leichter einen Bezug herstellen bzw. sie nachvollziehen.
2. Wir folgten keiner Hype-Welle: Keine Synthies, keine weibliche Sängerin, keine Exzesse oder Drogenabhängige in der Band. Einfach nur Rock- bzw. Popmusik, die unter die Haut gehen sollte.
3. Jedes Projekt braucht eine gewisse Inkubationszeit. Wir blieben nicht lange genug an einem dran. 

Ein Wiener in London
D.A.Y. (Definitely A Yes)

Ø  Wie schaut die Zukunft für eure Band aus?

Derzeit ungewiss. Es dauerte ein Weilchen, bis wir uns erst mal eingelebt hatten. Am 8.1.2015 standen wir in Heathrow ohne Haus, Jobs, Telefonnummer oder Bank Account. Im Februar jedoch wohnten wir bereits zu viert in einem Haus in Ealing, West London und im März/April arbeiteten wir alle in day jobs. Seitdem haben wir eine wahrliche Verwandlung durchgemacht und - das sei vorweggenommen - haben keinen neuen Sänger bis jetzt. Doch 2015 ist enorm viel in unserem hauseigenen Proberaum passiert. Wir haben auf zahlreichen Webseiten inseriert und bekommen auch ziemlich viele Mails. Jedoch war der oder die richtige Sänger/in noch nicht dabei. Davon lassen wir uns aber nicht stressen.

Ø  Ist die Musikszene in London wirklich so vielfältig und spannend, wie du es dir vorgestellt hast?

Definitiv. Hier herrscht eine andere Einstellung, was Musik betrifft, gerade was Bands betrifft. Obwohl es hier nicht wie in Wien von der Stadt geförderte Proberäume, Rechtsberatung oder Studio Sessions gibt, bekommt man ganz andere Reaktionen, wenn man sich hier als Musiker outet. Das liegt meiner Meinung nach daran, dass Selbstständigkeit in Österreich nicht gerade angesehen ist. Ein Musiker oder Maler oder Fotograf wird in Österreich meiner Erfahrung nach eher belächelt als respektiert; von Leuten, die sich in ihrem 40-Stunden-Fließband-Job sicher fühlen.

Ein Wiener in London
Gregor


Ø  Was vermisst du an Wien? Was eher nicht?​

Ich vermisse: meine Freunde! Den Umstand, dass meine alte Wohnung 10 Minuten vom Zentrum entfernt war und leistbar war.
Ich vermisse nicht: Alltagsrassismus, ständige Nörgelei, Kleingeistigkeit.

Ø  Wien ist die Stadt mit der besten Lebensqualität. Wie ist London?  Bist du mit der Lebensqualität und dem Sozialsystem zufrieden?

Die Lebensqualität in London ist geringer, das ist ein Fakt. Wenn man ein entspanntes Leben in guten Verhältnissen leben möchte, dann ist Wien der perfekte Ort. Wenn man große Ziele hat, ist die Gemütlichkeit und das soziale Netz leider ein Flaschenhals.


Ø  Überall in Wien hört man von einer „Wiener Clubkultur“? Wenn man das mit London vergleicht, kann man noch über sowas reden?

Definitiv was elektronische Musik betrifft. Ich habe Partys und Clubs in Wien kommen und gehen sehen. Wenn ich daran denke, dass Wien so groß wie ein Viertel von London ist, kann sich die Wiener Clubszene durchaus sehen lassen meiner Meinung nach.

Ø  Welchen Ort in Wien vermisst du am stärksten? Zum Fortgehen, Kaffeetrinken oder sonst was?

Das ganze Museumsquartier mit dem Donau (das Lokal) dahinter für das Bier vor und nach den Partys im Cafe Leopold.

Ø  Ich hab mich immer gefragt, was die Engländer außer dem englischen Frühstück essen? Was isst man eigentlich in London? Gibt´s österreichische Lebensmittelgeschäfte da?

Baked beans, Eier, Toast, viel Fleisch. Das Brot ist wahrlich furchtbar! Man muss das Weißbrot, das man bekommt, toasten, ansonsten kann man es nicht essen. Natürlich gibt es eine unglaubliche Auswahl an Küchen aus aller Welt. Aber Essengehen ist teuer. Rund um meine Arbeit wähle ich aus libanesischen, thai und chinesischen Take Aways.

Ø  Wie reagieren die Menschen auf dich, wenn du ihnen sagst, dass du aus Österreich bist? Kennen alle Wien?​

Ich sage meistens gleich, dass ich aus Vienna bin. Das kennen die Engländer. Der nächste Satz ist dann natürlich “I’ll be back” und “Get to the choppa!”. Erstaunt sind sie, dass ich Sound of Music noch nicht gesehen habe.

Ø  Gibt´s sowas wie eine Wiener oder österreichische Community in London? Wie aktiv bist du dabei?​

Einmal hatte ich ein Mädchen im Bus angesprochen, weil ich ihren österreichischen Dialekt erkannte, als sie telefonierte. Es gibt, glaube ich, eine Facebook-Gruppe, aber das interessiert mich nicht so sehr.

Ø  Ist London toleranter gegenüber Migrantinnen als Wien? Oder eher nicht?​

Was das betrifft, wurden mir wahrlich die Augen geöffnet. Ich hatte mich selbst für einen toleranten Menschen in Wien gehalten, doch wurde hier klar eines Besseren belehrt. In meinem Office sind von 12 Leuten 6 Ausländer und es ist kein Problem. Natürlich darf man nicht vergessen, dass 12 Leute, die im Software Development arbeiten und alle eine Universität besucht haben, längst nicht den Durchschnitt repräsentieren. Trotzdem sagt der Prime Minister (der Konservativen wohlgemerkt) hier öffentlich, dass die Engländer sich etwas von der Mehrheit der Muslime abschauen können, was Probleme mit Drogen betrifft oder die durchschnittliche Länge einer Ehe, was sich in Österreich kein Kanzler trauen würde.
Das ist meine persönliche Meinung: England ist nicht gelähmt von einer Nazi-Vergangenheit und befolgt deshalb die wichtigste Grundregel von klassischen Einwanderungsländern (siehe Kanada, USA, Australien): Es steht zu seinen Werten. Wer die Grundregeln (und das ist vor allem die Sprache) nicht akzeptiert, hat nichts in dem Land verloren. Es gilt zum Beispiel als äußerst rude, wenn man in einer anderen Sprache spricht, wenn auch andere im Raum anwesend sind, die das nicht verstehen können. Wenn man als Nicht-EU-Bürger in GB leben will, muss man außerdem etwa £2000 pro Jahr für ein Visum bezahlen. Österreich ist hier an der falschen Stelle unangebracht tolerant (keine Sprachtests, hohe Sozialleistungen) und begünstigt meiner Meinung nach damit Ghettobildung der ungebildeten Schicht der Einwanderer. Sprache ist definitiv Grundvoraussetzung für die schiere Möglichkeit der Integration. Auf der anderen Seite macht es der latente Alltagsrassismus der hauptsächlich weißen Bevölkerung den Migranten natürlich nicht einfacher.

Ø  In Wien als Migrant hat man wenig Kontakt zu den echten Wienern. Wie ist es in London? Und falls du einige kennst, wie sind die Londoner, deiner Meinung nach?​

True Londoners kenne ich nur eine Handvoll. So viele Leute hier sind aus dem Umland oder Ausland hergezogen. Was Londoner gemeinsam haben ist definitiv ihre überschwängliche Höflichkeit (‘sorry’ bei jeder Gelegenheit). Man ist oberflächlich extrem nett, wenn es aber ums Eingemachte geht, kann man nicht auf deren Worte zählen. Das habe ich an Österreichern lieber. Man weiß bei ihnen, woran man ist. Grantig ist grantig und freundlich ist dann wirklich freundlich und nicht oberflächlich freundlich.

Ø  Denkst du, dass du bald nach Wien zurückkommen wirst oder willst du in den nächsten Jahren in London bleiben?​

Ich kann mir nicht vorstellen, nach Wien zurückzukehren, solange ich arbeite. Dazu ist hier einfach zu viel los!









 

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