Lieber Papa, ich vermisse dich nicht mehr

06. März 2016

Was ich gerade schreibe, überrascht mich sehr.

Zum einen, weil sich das Wort „Papa“ sehr seltsam anfühlt. Ich spreche es aus und es klingt fremd, unvertraut. Wie denn sonst, wenn ich die vier Buchstaben noch nie in meinem Leben ausgesprochen habe. Zum anderen, weil ich mich selbst überrasche. Vor ein paar Monaten wäre ich nie auf die Idee gekommen, etwas derart Persönliches zu teilen. Woher die Sinneswandlung? Darauf habe ich keine Antwort und kann nur spekulieren. Vielleicht, weil ich die letzten zwei Monate buchstäblich „durchgeschrieben“ habe und es plötzlich nicht mehr tun muss, doch die Finger jucken, zittern. "SCHREIB WAS NIEDER!", spüre ich sie schreien. Vielleicht, weil ich realisiert habe, dass ich mich erst dann als Schreiberin fühle, wenn ich etwas wage. Wage, persönlich zu werden. Vielleicht ist es für mich eine Art billige Therapiestunde, die ich nicht bezahlen muss und mir trotzdem Angestautes von der Seele schreiben kann. Vielleicht, vielleicht, vielleicht... 

Drei Lebensstadien eines vaterlosen Kindes

Als ein Kind, das ohne Vater aufwuchs, machte ich die typischen Lebensstadien durch, die man als Kind in solcher Situation so durchmacht. Anfangs lebt man vor sich hin, ohne Dinge zu hinterfragen. Die Mama oder vielleicht die Oma holt einen vom Kindergarten ab und der Papa ist nie dabei, weil...naja...weil er so auch nie dabei ist. Die Geburtstage verbringt man unter Frauen, ab und zu kommen seine männlichen Freunde zu Besuch, um dir einen Blumenstrauß zu bringen und seine Abwesenheit zu rechtfertigen: „Er wollte wirklich kommen...“

Auch okay, man spült die Blumen einfach im Klo runter. Man hört ständig, wie ähnlich man ihm sieht, ohne ihm jemals wirklich begegnet zu sein. Er ist wie ein Geist, der ständig präsent ist, ein Schatten, der dich dein Leben lang verfolgt. Man lauscht den Konversationen der Erwachsenen und sieht die Mama manchmal weinen, versteht aber nicht, was los ist. „Es ist alles okay, geh wieder schlafen.“
Dann geht man halt schlafen.

Je älter man wird, desto komplexer wird es. Man fängt an, sich selbst Fragen zu stellen und nach Antworten zu suchen. Doch die Fragen kreisen um ihn herum, alles dreht sich um seine Person, sein Leben. „Was macht er wohl? Wie ist er als Mensch? Was ist seine Geschichte?“. Die Fantasie kennt keine Grenzen: Man malt sich aus, wie er seine Tage verbringt, fragt sich, ob er eine neue Familie hat, ob man Geschwister hat, von denen man nichts weiß. Die Neugierde überwiegt fast schon das Recht, das einem weggenommen wurde: das Recht auf einen Papa.

Sobald man erwachsen ist, begibt man sich auf eine Reise der Selbstfindung. An dieser Stelle kreisen alle Fragen um einen selbst: „Warum hat er mich verlassen? Warum ich? Werde ich jemals einem Mann vertrauen können?“.
Das Letzte kann ich bestätigen: Ja. Die Beziehungen können umso tiefgründiger und stärker werden, aber darauf komme ich später noch zurück.

Und wenn das letzte Stadium erfolgreich abgeschlossen ist, befindet man sich an einem guten Ort. An einem Ort, wo man ihn nicht mehr vermisst, sondern dafür dankt, dass er nicht da war. Denn nicht jeder Mann ist dafür geboren, Papa zu sein. Vater ist man immer, doch Papa kann nicht jeder werden. In Wirklichkeit kann man dem Menschen nur danken, dass er dein Leben nicht aktiv vergiftet hat. Seine Abwesenheit war giftig genug.

Man vermisst nicht, was man nicht kennt

Wenn meine Freunde von ihren Vätern erzählen, bin ich nicht eifersüchtig. Ich bin auch nicht neidisch. Ich bin fasziniert, ja fast schon verzaubert. Man vermisst nicht, was man nicht kennt, dafür lebt man von seinen eigenen Vorstellungen.

Das Positive an der ganzen Sache ist, dass man tatsächlich selbst entscheiden kann, wie man durch diese Erfahrung wächst. Es mag zweifelhaft klingen, aber die Wahrheit ist es trotzdem. Der Schuss kann auch nach hinten losgehen und man verbringt sein ganzes Leben damit, das Opfer des Universums zu sein. Das ist ja selbstzerstörerisch. Wenn man aber klug ist, weiß man, welche Stücke des zerbrochenen Selbstbewusstseins reparierbar sind. Man trifft die Entscheidung, aufmerksamer zu sein, und ist sich bereits sehr früh dessen bewusst, was man sich von einer Beziehung erwartet.

Auch ohne dich bin ich vollkommen

Die Annahme, dass Mädchen, die ohne Väter aufwachsen, automatisch mit Vaterkomplexen zu kämpfen haben, kennen wir alle.  Doch was wir nicht alle wissen, ist die frühe Erkennung dessen, was man in einem Mann schätzt. Für mich, zum Beispiel, wusste ich schon sehr früh, dass ich mir nur einen Mann an meiner Seite vorstellen kann, der weiß, was er will und dies auch kommunizieren kann. Jemand, der nicht ständig seine Meinung ändert und einfach bei sich ist. Hätte ich diese Erfahrung nicht gehabt, hätte ich mir wahrscheinlich nie so früh diese grundlegenden Fragen gestellt. Die Entscheidung meines Vaters, nicht Teil meines Lebens zu sein, hat mich umso mehr motiviert, die Vollkommenheit in mir selbst zu finden und zu spüren. Mich durch meine Verdienste zu definieren und an mir selbst zu arbeiten. Hätte er mich nicht verlassen, wäre Selbstentwicklung wahrscheinlich nie zu einem Hauptkriterium meines Daseins geworden. Wäre er da gewesen, wäre ich vielleicht nicht so wunschlos glücklich gewesen, einfach allein mit mir selbst zu sein.

Lieber Papa, ich vermisse dich nicht mehr. Mit „Papa“ meine ich aber nicht meinen biologischen Vater, dem ich mein Leben – im wahrsten Sinne des Wortes – zu verdanken habe, sondern den imaginären Papa, mit dem ich als Kind Händchen haltend durch die Felder spazieren ging. Die Vorstellung eines liebevollen männlichen Vorbildes, die mich durch mein Leben begleitet, meine Hausaufgaben mit mir macht und mich Tochter nennt. Ich vermisse dich nicht mehr, weil ich das fehlende Gefühl in mir selbst gefunden habe. Und das Vertrauen, vor allem das Vertrauen, dass mein Leben auch ohne dich vollkommen ist.

Dass diese Schlussfolgerungen und Annahmen auf rein persönlicher Ebene stattfinden und funktionieren, glaube ich, ist jedem bewusst. Sie kann man nicht verallgemeinern, denn jede Lebensgeschichte ist einzigartig und wird von dem Menschen selbst geschrieben. Doch an alle, die sich in meinen Worten wiederfinden können: Das Glas ist immer halb voll, wenn man sich dazu entscheidet, das Leben aus dem positiven Winkel zu betrachten. Anfangs mag man das Gefühl haben, Pech gehabt zu haben, doch dann merkt ihr, dass ihr auch Schönes aus der Erfahrung mitnehmen könnt. „Die Wunde ist der Ort, wo das Licht in dich eindringt“, sagte einst ein islamischer Mystiker. Und das stimmt. Ihr hattet vielleicht keinen Vater, dafür habt ihr euch. 

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