An meine Nichte: Halte niemals deinen Mund.

08. August 2023

Du bist noch klein: Ein süßes Baby, sagen die Leute. Ein unschuldiges Wesen, das die Welt gerade erst entdeckt und von allem begeistert ist. Wenn ich dich ansehe, sehe ich allerdings auch die Zukunft. Ich sehe dich als Kleinkind, Teenager und junge Frau. Jedes Mal, wenn ich um Mitternacht mit meinem Schlüsselbund zwischen meinen Fingern die Straßen entlang laufe um mich vor potentiellen Angreifern zu schützen, muss ich an dich denken. Wenn mir mal wieder ein Mann sagt, dass ich den Mund halten soll, habe ich Angst um dich und jedes einzelne Mal, wenn ein Mann einen „Frauen gehören in die Küche“-Witz macht, mache ich mir Sorgen um deine Zukunft. In deinem Leben werden dir immer wieder Menschen sagen wollen, was du machen, fühlen und sagen darfst. Du sollst die Stereotype einer Frau erfüllen und dich damit zufriedengeben, werden sie sagen. Die Frauen meiner Generation und die vor mir haben häufig über diese Missstände hinweg geschwiegen, darum muss deine umso lauter sein. Ich mache mir Sorgen und hoffe, dass sich einiges verändert und du manche Dinge nicht mehr so wie ich erleben musst. Für den Fall, dass es unsere Gesellschaft doch nicht schafft, möchte ich dir hiermit einige Worte auf deinen Weg mitgeben.

Mit acht Jahren habe ich zum ersten wegen meines Körpers geweint, weil ich überall im Fernsehen die Frauen mit perfekten Körpern gesehen habe. Ich bete dafür, dass du nicht auch schon als Kleinkind mit absurden Schönheitsidealen konfrontiert wirst. Ideale, die dich kaputt machen, dein Selbstwertgefühl schwächen und dich zu gefährlichen Eingriffen drängen können. Vieles da Draußen ist nicht echt. Die vollen Lippen, der große Po und die makellose Haut, all das entspricht in den meisten Fällen nicht der Realität. Fettabsaugung hier, Hyaluronunterspritzung da – es ist unheimlich. Zu erwarten, dass sich Frauen immer wieder dem Ideal anpassen ist unmenschlich und rein anatomisch gar nicht möglich. Wenn man sich diesen Idealen jedoch beugt landet man schnell in einem Teufelskreis auf Frust und Unsicherheit. Ich will nicht, dass du in deinem Zimmer liegst und weinst, weil du nicht so aussiehst wie es die Gesellschaft von dir erwartet. Paradox, ist es doch dieselbe Gesellschaft, in der Frauen systematisch unterdrückt werden und Gefahren ausgeliefert sind – einfach, weil sie Frauen sind.

In Österreich ist jede dritte Frau ab einem Alter von 15 Jahren von Gewalt betroffen und die Zahl der Femiziden erhöht sich regelmäßig. Getan wird dagegen bis heute jedoch nicht viel. Sei es körperliche, verbale oder sexualisierte Gewalt, häufig wird darüber nicht einmal gesprochen. Ganz im Gegenteil, ein Großteil der Vorfälle werden als Beziehungs- und Familiendramen abgetan. Es herrschen bizarre Diskussionen darüber, ob es Vergewaltigungen innerhalb der Ehe gibt, ob es provozierend ist, wenn junge Mädchen in der Schule bauchfreie Tops tragen oder ob ein „Nein“ wirklich immer „Nein“ bedeuten muss. Mir ist bewusst, dass auch du früher oder später mit solchen Situationen konfrontiert wirst. Du sollst aber niemals denken, dass du selber schuld daran bist, wenn dir Unrecht getan wird. Kein Mensch auf dieser Welt hat das Recht jemanden zu belästigen geschwiege denn handgreiflich zu werden. Darum, sei wütend, wehr dich und sprich mit Menschen, die dir guttun. Du bist niemals alleine.

In Liebe,

deine Keka (Anm.: B/K/S für Tante)

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