Warum Femizide in der Türkei vor allem ein politisches Thema sind

24. November 2022

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Privat: Foto von Gizem Yazan

Der Ausstieg aus der Istanbuler Konvention, die Schließung von gewaltpräventiven NGOs und viele ungeklärte Todesfälle von Frauen: Wie in der Türkei Frauenrechte immer weiter zugunsten „traditioneller Werte“ demontiert werden.

3765 ausgelöschte Leben – das ist die Zahl der Femizide, die zwischen 2008 und 2021 in der Türkei verübt wurden. Die Dunkelziffer ist deutlich höher, heißt es laut Berichten der türkischen Frauenrechtsorganisation „Wir werden Femizide stoppen“. „Heute geben uns die Frauen, die in der Türkei, in der Welt und im Iran kämpfen, Kraft“, so Gülsüm Kav, Gründerin der NGO. Sie ist eine wichtige Organisation im Kampf gegen Gewalt an Frauen. Denn es gibt eine beträchtliche Anzahl ungelöster, verdächtiger Todesfälle, die auf Femizide hinweisen. Diese sind leider nach wie vor ein großes Problem in der Türkei.

Nach dem Fall von Münevver Karabulut – einer 17-jährigen Schülerin, die auf grausame Weise getötet wurde – schlossen sich Frauen aus politischen Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und demokratischen Massenorganisationen zusammen. Sie erkannten, dass es sich bei Femiziden um ein strukturelles, gesellschaftspolitisches Problem handelt. Seit jeher leistet die NGO wichtige Arbeit in Bezug auf die Prävention und Aufdeckung von Femiziden in der Türkei, setzt sich für die Umsetzung von Kinder- und Frauenrechten und der Verhinderung von Strafminderungen für Täter ein.

Vermeintliche „Selbstmorde“

Einer der bekanntesten Fälle ist jener von Sule Cet. Sie fiel im Mai 2018 mutmaßlich aus einem Fenster im 20. Stock eines Gebäudes in Ankara, nachdem sie dort ein Vorstellungsgespräch hatte. Der Interviewer, sowie ein anderer Verdächtiger, wiesen die Vorwürfe zurück, dass sie etwas mit dem Tod zu tun hätten – es sei Suizid aufgrund finanzieller Probleme gewesen. Durch öffentliche Kampagnen, massive Proteste seitens der Zivilbevölkerung, sowie dem Druck durch „Wir werden Femizide stoppen“ nahmen die Behörden die Ermittlungen zu diesem Fall erneut auf. Es wurde nachgewiesen, dass Sule Cet vergewaltigt und dann aus dem Fenster gestoßen wurde. Leider ist dieser Fall bei weitem nicht der einzige, bei dem ein Mord unter dem Deckmantel eines Selbstmordes unter den Teppich gekehrt und deshalb nicht als Femizid gezählt wurde.

Der Austritt der Türkei aus der Istanbuler Konvention

Im Juli 2021 trat die Türkei aus der Istanbuler Konvention des Europäischen Rates zurück. Die Verhütung und der Schutz vor Gewalt, die Bestrafung von Gewaltverbrechen und die Entwicklung von Strategien zur Stärkung der Rechte von Frauen, Kindern und der LGBTQIA+ Community gegen Gewalt sind die Hauptziele der Konvention.

Die türkische Regierung begründete ihren Ausstieg hingegen so, dass die Istanbuler Konvention eine Gefährdung für traditionelle familiäre und gesellschaftliche Werte sei und „unmoralische Lebensweisen“ in Bezug auf Homosexualität propagiere. Die türkischen Rechtsvorschriften würden bereits einen ausreichenden Schutz bieten. Die Türkei war eine der ersten Staaten, die das Abkommen 2011 unterzeichneten. Es wurde 2014 in nationales Recht umgesetzt, worauf ein erster Rückgang in den Zahlen von Femiziden folgte. Ein Zeichen dafür, dass die öffentliche Kommunikation von Gewaltschutz für Frauen und die Positionierung seitens der Regierung etwas bewirken kann, denn die Konvention sieht vor, Gewaltverbrechen gegen Frauen zu verhindern und, insbesondere bei Männern, eine Mentalität zu schaffen, in der Gewalt bekämpft wird, anstatt sich ausschließlich auf Verfolgung zu stützen. Der Austritt war so erfolgreich, weil die politische Stimmung eines neuen Konservatismus seitens der türkischen Regierung einen auf Männlichkeit und Nationalstolz basierenden Typus schafft – vor allem durch die Medien.

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Privat: Foto von Gizem Yazan

Geschlechtergleichstellung auf allen Ebenen ist der Schlüssel

Im Global Gender Gap Report* 2022 des Weltwirtschaftsforums rangiert die Türkei auf Platz 126 von 153 Ländern. Im Vergleich zu 2010 ist das Land um sechs Plätze abgestiegen. Besonders auffällig ist dabei die Lage der wirtschaftlichen Teilhabe von Frauen, denn wirtschaftliche Unabhängigkeit ist eine wichtige Ressource für Frauen gegen häusliche Gewalt. Auch mangelnde Repräsentation von Frauen in der türkischen Politik trägt zu geschlechtsspezifischer Gewalt und patriarchalischen Strukturen bei, in denen Frauen verunglimpft, in alte und diskriminierende Geschlechterrollen gedrängt und unterdrückt werden.

Allerdings muss dabei auch beachtet werden, dass es sich hier um eine zeitgleiche Entwicklung konträrer gesellschaftlicher Konzepte handelt. Es findet trotzdem eine Progression in der türkischen Gesellschaft statt, bei der Frauen nicht länger nur abhängig sind – Bildung spielt hier eine Schlüsselrolle. Auf der einen Seite halten Frauen gezwungenermaßen häusliche Gewalt aufgrund finanzieller Abhängigkeit aus auf der anderen Seite erleben unabhängige Frauen, die Bildungschancen hatten und einen Beruf erlernten, aber Gewalt, weil leider das Phänomen des patriarchalischen Mannes noch immer existiert. Türkische Männer fühlen sich durch diese Unabhängigkeit in ihrem Stolz geächtet. Und dieses Phänomen wird durch die politische Kommunikation (auch durch die Instrumentalisierung des vermeintlichen Islams) revitalisiert und weiter bestärkt. Denn das Beziehungsverhältnis zwischen Männern und Frauen hat sich durch die Modernisierung in der Gesellschaft geändert – es entsteht die „männliche Angst“ davor, nicht länger „Herr des Hauses“ zu sein.

Aussagen wie „Die einzige Karriere, die Frauen brauchen, ist die Karriere als Mutter“ eines ehemaligen Gesundheitsministers von 2015, und „Ja, Mädchen studieren, aber jetzt finden unsere Jungs keine Mädchen mehr zum Heiraten“ des Regierungsmitglieds Erhan Ekmekci, sind in der Türkei keine Seltenheit und tragen zum Fortbestehen einer Mentalität bei, in der Gewalt gegen Frauen gedeihen kann.

Eine Denkweise, in der von Frauen nur erwartet wird, Mütter und Ehefrauen zu werden, in der das Recht der Frauen, über ihr eigenes Leben zu entscheiden, angegriffen wird, angefangen beim Recht zu arbeiten, auf eigenen Beinen zu stehen bis hin zu Entscheidungen über den eigenen Körper wie Abtreibung oder Verhütungsmethoden. In Zeiten mangelnden aktiven Schutzes der Rechte der Frauen ist es kein Zufall, dass die Gewalt zunimmt.

Die sogenannte „Provokationsverteidung“

Emine Akgül wurde 2018 während der Scheidung von ihrem Mann erschossen. In der Verhandlung erklärte er, er habe eine Männerstimme aus ihrer Wohnung gehört, die ihn veranlasst habe, sie zu konfrontieren. Er verteidigte sich erfolgreich damit, überwältigt und nicht er selbst gewesen zu sein, als er seine Waffe zog und sie erschoss, wofür ihm Straferlass gewährt wurde. Ähnliche Fälle von Straferlass bei Femiziden traten aufgrund von „übermäßig leidenschaftlicher Liebe“, hohem gesellschaftlichen Status, Erlass wegen „Reue“ oder „einem Moment der Wut“ auf. Die sogenannte „Provokationsverteidigung“ (haksiz tahrik) ermöglicht es türkischen Männern, mildere Strafen zu erhalten, wenn sie Femizide begehen – Rechtfertigungen durch soziale Normen, Traditionen und kultureller Sitten. Sie werden benutzt, um die Opfer zu diffamieren und verantwortlich für ihr Schicksal zu machen.

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Privat: Foto von Gizem Yazan

„Die Istanbuler Konvention ist der Impfstoff gegen Gewalt“

All die angeführten Fälle, sowie der Austritt aus der Istanbuler Konvention und das Versäumnis des türkischen Rechtssystems, Frauen zu schützen, sind fatal. Die Hemmschwelle von Tätern sinkt durch Fälle von Strafminderungen und vor allem durch die falsche politische Kommunikation, weil sie nicht nur indirekt durch Gesetz und Regierung in patriarchalischen Strukturen unterstützt werden, sondern weil sie den Gewaltakt in allen Formen für gerechtfertigt halten – wenn ihre (Ex-) Ehefrau, Tochter oder Partnerin kein „anständiges weibliches Benehmen“ an den Tag legen. Wenn die Regierung entsprechende Maßnahmen getroffen und durch öffentliche Kampagnen und Programme ihre Kommunikation weg von einem dominierenden Partriarchat hin zu einer Gesellschaft bewegt hätte, in der kollektiv Gewalt gegen Frauen geächtet wird, – unter anderem mithilfe der Durchsetzung der Istanbuler Konvention und des Schutzgesetzes Nr. 6284** – hätten viele Frauenleben in der Türkei gerettet werden können. Der Wiedereintritt in die Konvention alleine ist nicht die Lösung des Problems – denn dafür ist es zu vielschichtig - aber die zentrale Grundlage für alle darauf aufbauenden Schritte: Die Zerschmetterung des aktuellen Narrativs von „Männlichkeit“ und das Durchbrechen von traditionellen Geschlechterrollen muss von der Politik ebenso getragen werden wie die Durchsetzung von rechtlichem Schutz.

Deshalb sind Femizide in der Türkei ein politisches Thema, und deshalb sind Frauen in der Türkei durch den Austritt aus der Konvention und durch die Schließung einer so wichtigen Frauenrechtsorganisation wie „Wir werden Femizide stoppen“ – die maßgeblich zu der Durchsetzung von Gesetzen und der Aufdeckung von Morden beitragen - noch stärker gefährdet. Im Januar 2023 muss sich die NGO vor Gericht behaupten – ihre Auflösung wird beantragt mit der Begründung, dass sie „Tätigkeiten ausübt, die gegen das Gesetz und die Moral verstoßen“.

„Auch Gewalt hat einen Impfstoff. Die Istanbuler Konvention ist der Impfstoff gegen Gewalt und ihr Hauptinhalt ist die Gleichstellung der Geschlechter“, so Gülsüm Kav. Damit sind Prävention, Schutz und Strafverfolgung mit entsprechender medialen und politischen Zerschmetterung toxischer und dominanter Männlichkeit ein wichtiger Schritt hin zu einer Gesellschaft, in der Gewalt gegen Frauen nicht mehr gedeihen kann.

 

*Global Gender Gap Report = Index zur Messung der Geschlechtergleichstellung im Hinblick auf wirtschaftliche Teilhabe und Chancen, Bildungsniveau, politische Eingebundenheit sowie Gesundheit und Überleben

**Schutzgesetz Nr. 6284 = Ein nationales Schutzgesetz, das die Verhütung und Verfolgung von psychischer, wirtschaftlicher und physischer Gewalt gegen Frauen und Kinder vorsieht

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