2 Monate nach dem Erdbeben

14. April 2023

Özben
Foto: Özben Önal

 

In den letzten Wochen befinde ich mich immer wieder in Gesprächen innerhalb der Community über die Zukunft unserer zerstörten Heimatprovinz Hatay. Während ich jedes Mal unkontrollierbare Wut empfinde, wenn ich an die Trümmer und Zustände vor Ort denke, stecken andere noch in einer Phase der Trauer über die Verluste. Und wieder andere sprechen davon, dass nach vorne geblickt werden muss. Das Leben vor Ort geht zwar weiter, die Zeit ist offensichtlich nicht stehen geblieben, aber von Normalität kann noch lange nicht die Rede sein. Menschen sind noch immer in Zelten untergebracht, es mangelt zum Teil noch immer an sanitären Anlagen und Waschmöglichkeiten, routinemäßig notwendige Grundbedürfnisse können nicht gedeckt werden - das Zurückkehren von Normalität bleibt so in weiter Ferne. Aber auch die emotionale Komponente spielt hier eine Rolle. Vor zwei Tagen erzählte mir meine Cousine aus Hatay bei einem Telefonat vom Besuch ihrer Freundin, die ihre Mutter und Schwester beim Erdbeben verloren hatte. Sie war mit ihrem Vater noch einmal zu den Trümmern gefahren in der Hoffnung, etwas zu finden, das sie als Erinnerung mitnehmen könnten. Es war nicht möglich gewesen, die Leichname der beiden zu finden, noch immer liegen sie irgendwo zwischen Beton und Gestein. Darüber trauern sie am meisten - keinen Ort zu haben, an den sie gehen können, um sich mit ihren Liebsten verbunden zu fühlen. Sie zeigte meiner Cousine ein zerknittertes Familienbild, das nun als einziges Andenken an die Zeit vor dem sechsten Februar dient.

 

Unterschiedliche Verarbeitungsprozesse

Die Menschen vor Ort sind alle in unterschiedlichen Phasen der Verarbeitung und haben demnach auch einen anderen Umgang mit der Situation. Viele haben Schwierigkeiten zu begreifen, was ihnen widerfahren ist und suchen verzweifelt nach einem Sinn. Darunter auch solche, die an dem Glauben festhalten, dass ihr Verlust Schicksal war. Jedes Mal, wenn ich dieses Wort im Zusammenhang mit dem Erdbeben höre, stellen sich mir die Nackenhaare auf und ich werde wütend. Denn die Verbindung erinnert an das politisierte Narrativ, das Erdogan drei Tage nach dem Beben bediente, indem er von „Schicksal“ sprach, was vor allem dazu dienen sollte, Verantwortungslosigkeit und Versagen innerhalb der Regierung zu legitimieren. Allerdings ist mir mittlerweile klar, dass der individuelle Glaube daran, der eigene Verlust sei Schicksal gewesen, für einige Menschen notwendig ist und manchmal auch getrennt vom politischen Vokabular gesehen werden sollte, dessen sich ein Staatsoberhaupt bedient, um das eigene Verschulden zu rechtfertigen. Sie kennen keinen anderen Weg des Trostes, keinen anderen Sinn. Und um ihren Verlust verarbeiten zu können, halten sie an ihrem Glauben fest, weil es für sie nichts anderes gibt. Und woher nähme ich das Recht, einer tieftrauernden Person abzusprechen, woran sie glaubt und für den Moment glauben muss, um ihre Situation ertragen zu können? Genau so gibt es Menschen, deren Trauer in Wut umgeschwungen ist, Wut darüber, nicht akzeptieren zu wollen, dass ihr Verlust als Schicksal betitelt wird. Sie brauchen die Übernahme von Verantwortung, die Gerechtigkeit und die Aufklärung, um den Heilungsprozess beginnen zu können. Die Wut ist ihr Ventil. Auch wenn es sich um ein kollektives Trauma handelt, gibt es auf der individuellen Ebene nicht den einen richtigen Umgang, dafür ist die Gesellschaft zu vielschichtig, das Erlebte zu unterschiedlich. Vielmehr ist gerade höchste Sensibilität gefragt in Gesprächen über das Erlebte. zwei Monate fühlen sich für die einen an wie zwei Tage, für die anderen wie zwei Jahre. Die einen glauben daran, dass der Verlust ihrer Liebsten unumgänglich war, während andere von Mord sprechen. 

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