Von selbstgesponnenen Auffangnetzen

06. Juli 2023

Özben

 

Von Özben Önal

 

In eine neue Stadt zu ziehen kann schwierig sein. Vor allem in eine Stadt, in der man noch niemanden kennt. Die man vorher noch nie besucht hat. Wenn es dann noch um die bayrische Hauptstadt geht, hat man den Salat. Oder eben die Weißwurst. Entgegen aller Vorurteile gegenüber München, die auch mir nicht erspart blieben, habe ich das Gefühl schon nach zwei Wochen angekommen zu sein. Zu Beginn schob ich das noch auf den Luxus jederzeit innerhalb kürzester Zeit in einen Fluss springen zu können, der durch die gesamte Stadt fließt. Die Isar ist definitiv ein nennenswerter Zusatz. Aber ich meine ein ganz bestimmtes Ankommen. Nicht im Sinne von: Ich weiß, welchen Bus in welche Richtung ich nehmen muss, ohne vorher bei Google Maps nachzuschauen. Vielmehr meine ich damit, mich wohlzufühlen, entgegen aller Zweifel. Ich meine damit, mich mit Menschen zu umgeben, die safe spaces sind. Mit denen ich auf dem Balkon sitzen kann und über die Welt philosophieren, während wir an Raki-Gläsern nippen und im Hintergrund kurdische und türkische Lieder laufen. Das Gefühl von Community ist, was ich meine. Umgeben von Menschen zu sein, die ich allesamt bewundere für die Persönlichkeiten, die sie sind. Für die Kämpfe, die sie Tag für Tag führen, kollektiv und individuell. Für eine bessere Gesellschaft, eine bessere Welt. Ohne zu diskriminieren. Mit der nötigen Sensibilität füreinander. 

Keine Kompromisse

Mir ist bewusst, dass das eine sehr romantisierte, vielleicht sogar übertriebene Darstellung ist. Aber als jemand, der viel Zeit damit verbracht hat, sich zu assimilieren und um jeden Preis zu einer Mehrheitsgesellschaft dazugehören zu wollen, sind das besondere Begegnungen. Und besondere Verbindungen.

Das Konzept von Genoss:innenschaft wird mit jedem Tag, an dem ich lerne, wer ich bin und mit wem ich mich umgeben möchte, klarer. Das sind Menschen, die akzeptieren, respektieren, aber stets reflektieren. Das sind Menschen, die für Gerechtigkeit einstehen und hinsehen. Die Unterdrückung adressieren, sich ihrer Privilegien bewusst sind und diese nutzen. Die mich zum Nachdenken und Überdenken anregen, die mich verstehen und mich gleichzeitig fordern. Ich bin nicht mehr bereit Kompromisse einzugehen. Das mag manch eine:r als radikal ansehen, ich für meinen Teil sehe eine wichtige persönliche Entwicklung darin zu realisieren, welche Wichtigkeit ein Auffangnetz hat, in dem ich mich sicher und gesehen fühle. In dem unterdrückte, marginalisierte Gruppen sicher sind und gesehen werden. Und sicher fühle ich mich wiederum erst, wenn Menschen, die stärker oder mehrfach marginalisiert sind, sich in meinem Auffangnetz sicher fühlen. Um es in Şeyda Kurts Worten aus ihrem Buch Radikale Zärtlichkeit auszudrücken: „Die Welt wird nicht allein dadurch besser, dass ich in meinem nächsten Umfeld zärtliche Beziehungen führe. Es muss um Solidarität mit anderen Menschen gehen, die über meine Partner:innen- oder Freund:innenschaft hinausgeht.“ Wir sind geprägt von unterdrückerischen Systemen, die unser Handeln bestimmen, die wir internalisiert haben. Aber das zu reflektieren, stets zu hinterfragen und zu verändern sehe ich auch in unserer Verantwortung – das macht mein persönliches Auffangnetz aus.  ●

 

Kolumnistin Özben Önal ist euer „Quoten-Almanci“ – ein bisschen deutsch, ein bisschen türkisch, mit ein bisschen Liebe zu Wien. In ihrer Kolumne berichtet sie über Schönes, Schwieriges und Alltägliches.

Bereich: 

Das könnte dich auch interessieren

Foto: Zoe Opratko
  von Özben Önal   Wer regelmäßig die...
Foto: Zoe Opratko
Als Tochter einer muslimischen Familie...
Özben
  Von Özben Önal   In eine neue Stadt...

Anmelden & Mitreden

4 + 12 =
Bitte löse die Rechnung