Gesichter der Zeit

25. März 2014

Durch einen zufälligen Blick in den Spiegel wurde mir erst klar, dass ich älter geworden bin. Es war ein Morgen wie jeder andere, die letzten dreißig Jahre, sie waren alle wie ein einziger Tag. Die Jahre davor, die waren lebenswert. Die Jahre mit ihr, so kurz sie auch waren, aber sie waren mein Leben.

 

Ich weiß nicht wohin die letzten Jahre verschwunden sind, aber ich kann mich nicht daran erinnern sie gelebt zu haben. Ich wache auf – alleine – und das in einem Bett, in dem fünf Personen schlafen könnten. Ich frühstücke alleine, und das auf einem Tisch, den mal für ein „All you can eat“ -Buffet verwenden könnte. Ich lebe in einem Haus, das viele mit einem Palast verwechseln könnten – und das alleine.

Ich habe überlegt dieses Haus zu verkaufen und in eine kleine Wohnung in der Innenstadt zu leben, aber wenn ich in diesem Haus weiterlebe, dann besteht doch die Möglichkeit, dass sie eines Tages zurückkommt. Sollte ich nämlich tatsächlich eine kleine Wohnung kaufen, in der nur ich leben könnte, dann wäre ihre Rückkehr unmöglich und das wäre für tödlich für mich.


Ich vermisse sie. Ich habe sie in den letzten dreißig Jahren sehr vermisst. Ich vermisse ihr Lachen, ihre goldenen Locken, die mit jedem Windzug springen, als hätten sie Leben in sich und das Glänzen ihrer Katzenaugen, wenn sie sich für etwas begeisterte. Diese Frau hat sich für alles auf der Welt begeistert. Sie fand immer einen Grund zu lachen, und Lebensfreude an andere weiterzugeben. Eine Eistüte an einem heißen Sommertag machte sie schon zum glücklichsten Menschen auf Erden.

 

Sie hat meine Gedanken nie verlassen. Ihr Bild, es weckt mich früh am Morgen und es bringt mich jede Nacht ins Bett. Aber ich schlafe nicht. Ich stelle mir stattdessen vor wie mein Leben gewesen wäre, wenn ich sie vor dreißig Jahren nicht verlassen hätte. Das letzte Bild das ich von ihr in Erinnerung habe ist ihr von Engeln gezeichnetes Gesicht in ein weißes Kleid und einen langen Schleier. Sie stand weit weg von mir und sah mich nicht, aber ich konnte sie gut sehen, so gut, dass mir bewusst wurde, ich verdiente sie nicht. Ich war ihrer nicht würdig. Ich war ein Feigling. Ich war ein verliebter Feigling. Ich war ein verliebter, armer Feigling, der die schönste Frau auf Erden heiraten wollte, aber nicht genug Geld hatte um sich selbst zu ernähren. Als meine Augen an diesem Tag auf sie fielen, und ich sie in dieses Kleid sah, es überweltigte mich. Ich verdiente sie nicht. Ich habe sie nie verdient. Auch wenn es für sie keine Rolle spielen mochte, für mich spielte es eine. Tief im Inneren wusste ich von Beginn an, dass sie etwas Besseres verdiente. Ich ging. Ich ließ sie stehen und ging. Alles woran ich mich noch erinnern kann ist sie, in weiß, wartend auf ihren Bräutigam, der nie erschien.

 

Heute, fast dreißig Jahre später, habe ich mehr Geld am Konto als es Sandkörner am Meer gibt. Aber dieses Geld, es ist nichts wert, nicht ohne sie. Manchmal überkommt mich der komische Gedanke, sie wieder zu sehen. Denkt sie an mich? Ist sie glücklich? Ist sie verheiratet? Wo ist sie?


Und da war sie, völlig unerwartet, aus einer Menschenmenge heraus, sehe ich sie vor mir auf der Straße am Weg zur Innenstadt, um eine kleine Wohnung anzusehen. Sie ist es! Ich weiß es, es kann nur sie sein. Es ist ihr Lachen, ihre kindliche Art die Augen zusammenzukneifen, wenn sie sich für etwas begeistert. Es sind ihre Haare, die eine Liebesbeziehung mit dem Wind haben. Sie mögen nun kürzer sein, aber sie ist es!

Die letzten Jahre sieht man ihr nicht an. Die paar Fältchen um ihre Augen machen sie sogar noch attraktiver. Sie strahlt wie immer, telefoniert und lacht dabei, als würde sie ein unsichtbarer Clown kitzeln. Woran liegt das wohl? Mit wem telefoniert sie? Liegt es an dem Ehering den sie trägt, dass es ihr so gut geht? Ich sah diesen goldenen Kreis an ihrem zierlichen Finger und wurde in Trance versetzt. Was hatte ich auch erwartet? Dass sie auf mich wartete? Ich hatte sie sitzen gelassen. Ich habe kein Recht auf Eifersucht oder Fragen, ich hatte mir jegliches Recht was sie betrifft selbst genommen, und das vor langer Zeit.

Das einzige, was mich am Leben hält ist jedoch, sie gesehen zu haben. Zu wissen, dass es ihr gut geht, dass eine glückliche Frau aus ihr geworden ist, dass sie ihr Lachen nicht verlernt hat, es macht meine Tränen weniger schmerzhaft und die leere Stelle an meinem Finger weniger kalt. 

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