Aneinander vorbeileben. Teil 1: Weiß und riesig in China

26. August 2015

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Anja Miletic
Foto: Anja Miletic

Wir leben aneinander vorbei. Waagrecht vorbei. Senkrecht vorbei, unten drunter vorbei, oben drüber vorbei manchmal sogar quer durch, aber immer perfekt aneinander vorbei. Zu gestresst ist unser Alltag. Immer müssen wir irgendwohin, irgendwas machen. Ganz schnell noch etwas erledigen. Wir begegnen vielen Menschen. Aber nur physisch eben, nie emotional. Unser kollektiver gemeinsamer Nenner ist die gegenseitige Vermeidung. Für eine wirkliche Begegnung haben wir keine Zeit. Wer ist eigentlich die Bäckerin, die mir in der Früh immer mein Frühstück reicht? Der Mann, der auf der Mariahilfer Straße regelrecht in mich hineinläuft, weil er gerade rückwärtsgehen muss, um mit seinen Freunden hinter ihm zu reden? Der Studienkollege, den ich zwar nur vom Sehen kenne, mit dem ich mich aber trotzdem irgendwie verbunden fühle, weil wir uns bei jeder einzelnen Prüfung gesehen und insgeheim gemeinsam gelitten haben? Ich habe leider keine Ahnung, wer sie sind.

Das finde ich aber sehr schade. Denn ich bin fest davon überzeugt, dass jede und jeder von uns interessante Geschichten zu erzählen hat. Es muss halt nur jemand zuhören. Daher habe ich mir das jetzt auch ganz fest vorgenommen: Ich werde zuhören! Der Stadt und ihren Menschen. Ich möchte einen winzigen Beitrag dazu leisten, dass wir miteinander leben, anstatt aneinander vorbei. Wer weiß, vielleicht werden aus flüchtigen Begegnungen ja tatsächlich einmalige Einblicke in andere Leben.

Meine erste Begegnung: Anja Miletic

Anja Miletic
Foto: Sümeyra Akarcesme

Begegnet bin ich ihr ganz zufällig, als ich für eine biber-Geschichte unterwegs war. Begeistert von ihrer Offenheit und ihrer positiven Ausstrahlung habe ich sie gefragt, ob ich sie etwas näher kennenlernen darf. Sie hat mir dann einen kleinen Einblick in ihre spannende Geschichte gegeben: Hier die Highlights.

 „Als ich geheiratet habe, hab ich mir eigentlich gedacht, ich bin ausnahmsweise mal keine Migrantin und wir leben jetzt einfach in Serbien. Mir reicht es mit dem Hin und Her. Zwei Monate später sind wir nach China ausgewandert.“

Anja Miletic lebt seit über 15 Jahren in Wien, kommt ursprünglich aus Serbien und ist 1.80m groß. Eine Eigenschaft, über die sich die 30-Jährige nie viel beschwert hat. Richtig zum Verhängnis wurde ihr ihre Größe erst, als ihr Mann (1.95m) ein gutes Jobangebot bekam und sie daher als frisch verheiratetes Paar nach China auswanderten.

„Wir waren weiß, wir waren riesig und wir haben uns noch dazu unter Brücken geküsst!“

Zwei Monate nachdem sie geheiratet haben, hat Anjas Mann sie gefragt, ob sie mit ihm nach China auswandern würde. „Klar, ich gehe dahin, wo du hin gehst“, war die Antwort. So einfach war das der großen Liebe wegen. Schwierig wurde es erst, als sie tatsächlich auswanderten. Denn abgesehen vom ganz normalen Kulturschock machte ihnen auch ihre Körpergröße viel zu schaffen. „Für chinesische Verhältnisse waren wir einfach riesig“, sagt Anja, „die armen Kinder, die haben sowas halt nie gesehen und haben uns angeschaut als ob wir Aliens wären.“ Fantastisch fanden das große Paar aber nicht nur die Kinder. Auch für die Erwachsenen dort waren sie die Attraktion Nummer eins. Als Anja und ihr Mann im venezianischen Hotel Macao übernachteten, das mit seinen exklusiven Gondelfahrten auf dem künstlichen See mitten im Hotel einen Hauch von Venedig-Feeling herbeizaubern sollte, wurden sie von der Sängerin an Board gebeten, sich unter jeder Brücke zu küssen. So wie es in Venedig halt üblich sei. „Das haben wir dann natürlich auch gemacht“, erzählt Anja weiter. Die Sensation im Publikum war natürlich groß, zumal das Küssen in der Öffentlichkeit in China weitgehend tabu ist. „Es hat von allen Seiten geblitzt. Fast alle haben uns fotografiert. Ich bin mir vorgekommen wie ein Star“, sagt sie lachend. Als sie mit ihrer Tochter schwanger wurde und es zu Komplikationen kam, hat sie sich entschieden, nach Serbien zurückzukehren. Im Moment lebt sie mit ihrer Tochter und ihrem Mann in Wien.

Aufgefallen ist Anja aber nicht nur in China. Wie sie mit den Blicken schaulustiger Beobachter umzugehen hat, musste sie schon viel früher lernen. Aufgrund ihres Übergewichts (ca. 170 Kilogramm) wurde sie früher in Serbien oft zur Zielscheibe von Mobbing. „Sogar an der Uni sind Mädels zu mir gekommen und haben gesagt: „He, du bist eine fette Kuh“ Einfach nur so!“, erzählt sie verbittert. Allgemein waren ihr die Kommentare frecher Menschen aber egal, denn sie war glücklich mit sich selbst, mit ihrem Mann und mit ihrer kleinen Tochter. Der Gesellschaft gefällt es nicht, wenn jemand auffällig anders ist als die Masse. Das wusste sie. Was sie schließlich dazu bewegt hat, doch abzunehmen, war daher ganz sicher kein Anstreben um mehr Akzeptanz in der Gesellschaft, sondern was ganz anderes.

Die Verwandlung

Anja Miletic
Anja Miletic

Sie war mit ihrem Mann und mit ihrer kleinen Tochter im 20. Bezirk spazieren. Plötzlich hat sich ihre Tochter von ihr losgerissen und ist auf die Straße gerannt. Ihr Mann hat sie ganz knapp vor den Autos schnappen können. In diesem Moment habe sie realisiert, dass es aufgrund ihres Gewichtes unmöglich gewesen wäre, ihrer Tochter nachzulaufen. „Wenn ihr Vater nicht da wäre, hätte ich sie verlieren können“, sagt sie. Danach hat sie sich für einen Magenbypass entschieden und hat es nach einem langwierigen Prozess geschafft, 82 Kilogramm abzunehmen. Heute wiegt sie nur mehr 88 Kilogramm. Was die anderen über sie denken, ist ihr auch heute egal. Sie ist genauso glücklich mit ihrem Mann und mit ihrer Tochter wie sie es früher war. Etwas hat sich aber dennoch verändert: Nun kann sie sich gemeinsam mit der Kleinen austoben.

Anja verabschiedet sich von mir, ihre Tochter wartet auf sie. Außerdem will sie ihren Mann mit den Karten für das serbische Festival Guca überraschen. Ich will sie also nicht weiter aufhalten. Danke Anja! Ich habe es sehr genossen, so eine interessante Persönlichkeit wie dich kennengelernt zu haben. Wer wird meine nächste Begegnung wohl sein? Ich freue mich jetzt schon darauf.

 

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