Heute vor 16 Jahren

17. August 2015

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Erdbeben 1999
Screenshot: ziza.net

Genau heute vor 16 Jahren, am 17. August 1999, hat ein 7.8 starkes Erdbeben den Nordwesten der Türkei zerstört. Was geblieben ist, sind betrübte Erinnerungen, viel Trauer und eine noch immer nicht ausreichend bebensichere Infrastruktur.

„Ich war in Istanbul, als uns im Jahr 1999 das Erdbeben traf“, erzählt Elif Safak, eine der meistgelesenen türkischen Schriftstellerinnen, in ihrem Ted-Talk. Als sie um drei Uhr morgens aus dem Gebäude rannte, sah sie etwas, dass sie sich für immer als Symbol dieser tragischen Nacht einprägen würde: „Da war der örtliche Lebensmittelhandler, ein mürrischer, alter Mann, der keinen Alkohol verkaufte und nicht mit Außenseitern redete. Er saß neben einem Transvestiten mit einer langen, schwarzen Perücke und Wimperntusche, die ihre Wangen herunterlief. Ich beobachtete, wie der Mann mit zitternden Händen eine Packung Zigaretten öffnete und ihr eine anbot.“ Das sei das Bild, das sie vor ihr sehe, von der Nacht des Erdbebens: Ein konservativer Krämer und ein weinender Transvestit, die auf dem Gehsteig zusammen rauchen. „Im Angesicht von Tod und Zerstörung lösten sich unsere profanen Unterschiede in Luft auf und wir alle wurden eins, wenn auch nur für ein paar Stunden“, mit diesen Worten bringt Safak den Ausnahmezustand in dieser Nacht genau auf den Punkt.

45 Sekunden- eine gefühlte Ewigkeit

Im ca. 45 Sekunden langen Beben kamen mehr als 18.000 Personen ums Leben, fast 49.000 wurden verletzt. Das Erdbeben, das 1999 die Nordwesttürkei erschütterte, war eines der schwersten in der Geschichte des Landes. Am schlimmsten betroffen war neben Adapazari und Göcek auch die Industriestadt Izmit. Dort geriet die damals größte Ölraffinerie des Landes in Brand und war kaum unter Kontrolle zu halten. Aber auch die ca. 80 km weiter östlich gelegene Metropole Istanbul war stark betroffen. In der ganzen Region herrschte ein Ausnahmezustand. Stundenlang funktionierten weder Strom noch Telefon. Auch der Verkehr brach völlig zusammen.

Zorn und Erbitterung der Bevölkerung galt vor allem den damaligen Regierungsbehörden und ganz stark auch den skrupellosen Bauunternehmen, die zu einem großen Teil für das Ausmaß der tragischen Folgen des Bebens verantwortlich gemacht wurden. Nach Angaben türkischer Medien gab es 2.200 Klagen gegen Bauunternehmer, von denen lediglich 40 mit Schuldsprüchen endeten. Alle anderen Strafverfahren sind per Februar 2007 verjährt.

Unzufriedenheit herrschte aber auch über den Staat, der offensichtlich nicht in der Lage war, rasche Rettung und Versorgung der Verschütteten zu organisieren. Nach Angaben lokaler Medien gruben Menschen stundenlang mit bloßen Händen nach ihren Verwandten unter den Trümmern. Tausende halfen freiwillig mit. Der damalige konservative Staatspräsident Demirel und der sozialdemokratische Ministerpräsident Ecevit drückten lediglich ihre „tiefe Trauer und Anteilnahme am Schicksal der Nation“ aus.

Die heutige Lage

Seit Jahren klagen türkische ErdbebenforscherInnen, dass zu wenig in der Gefahrenvorsorge getan werde. Cemal Gökce, Vorsitzender der Ingenieurskammer IMO, hat vor kurzem in einer Pressekonferenz mitgeteilt, dass Istanbul für ein ähnliches Erdbeben, das in den nächsten Jahrzehnten sehr wahrscheinlich auftreten wird, nicht vorbereitet ist. Selbst strenge Regeln und Bauvorschriften, die die Regierung in manchen Provinzen erlassen hat, wurden angeblich ignoriert. Die Ingenieurskammer, IMO inspizierte 2011 einen Teil der Gebäude, die als erdbebensicher zertifiziert wurden und kam zu dem fatalen Schluss, dass Gebäude für sicher erklärt wurden, die es in Wirklichkeit nicht sind. Dies in einem Land, das alle paar Jahre von mittelstarken Erdbeben heimgesucht wird.

Sechzehn Jahre sind vergangen. Die Menschen gehen schon längst wieder den kleinen Sorgen des Alltags nach. Der 17. August bringt aber jedes Jahr eine trübe Wolke über die Türkei. Auch heute gedenkt das ganze Land der verstorbenen Erdbebenopfer. Eine Trauer, die in einem Land, das nicht gegensätzlicher sein könnte, von allen gleichermaßen verspürt wird.

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