Mama, wieso schaust du mich so an?
annen_kurban_olsun_sana.png
Ein Bild erzählt mehr als tausend Worte, sagt man. Nun, wenn dem so ist, dann erzählen Blicke türkischer Mütter ganze Enzyklopädien - Eine Anleitung
Türkische Mütter: Eine Gruppe, die eigentlich so heterogen ist wie die Menschheit selbst. Wenn es aber eine Fähigkeit gibt, die alle türkische Mütter aus mehreren Generationen, verschiedensten sozialen Schichten und unterschiedlichsten Regionen gemeinsam haben und gleichermaßen perfekt beherrschen können, dann ist das die hohe Kunst der nonverbalen Kommunikation. Mit einem einzigen Blick gewähren sie dir einen Einblick in die komplexesten Vorgänge in ihren Köpfen in einer Notsituation. Sprich: eine gefährliche Situation für türkische Mütter, die vor allem dann entsteht, wenn ihre „Kinder“ (ganz egal welchen Alters!) -in Anwesenheit von Gästen- eine wichtige türkische soziale Konvention brechen.
Die High-Tech Lösung
Alle Verhaltensregeln, die türkische Mütter zur Lösung einer Notsituation in Erwägung ziehen, vermitteln sie dir, dem Auslöser dieser unangenehmen Situation, hoch verschlüsselt weiter. Denn du - und nur du - sollst die Botschaft bekommen, sonst niemand. Vor allem nicht die Gäste. Der Code zur Entschlüsselung dieser komplexen, für Kinder türkischer Mütter lebenswichtigen Blicke soll aber gelernt sein. Ein Prozess, der dem durchschnittlichen türkischen Kind Jahre kostet. Hier eine kurze Einleitung.
Code Nummer 1: „Rede nicht so wild!“
Der Auslöser dieses Blickes ist meist ein unangebrachter Kommentar von dir zu einer für dich meist fraglichen Aussage bzw. Frage eines Gastes.
Beispiel:
Gast: „Und x, wann heiratest du?
X : „Nicht in naher Zukunft. Wie geht’s eigentlich Ihrer Tochter? Sie hat sich vor Kurzem scheiden lassen habe ich gehört.“
Code Nummer 2: „Wir reden später!“
Dieser Blick ist der König aller zurechtweisenden Blicke. Den Blick bekommst du meistens ganz subtil und unterschwellig während deine Mutter die Gäste friedlich anlächelt. Während sich Code 1 zeitlich auf das Hier und Jetzt bezieht, bezieht sich der „Wir reden später Blick“ auf einen undefinierten Zeitpunkt in der Zukunft. Wenn die Gäste dann mal weg sind folgt eine hochemotionale Diskussion über deine offensichtlich fehlgegangene Erziehung.
Beispiel:
Gast (ganz ernst): „ X, was willst du nach deinem Studium machen?"
X: „Ich werde nach Brasilien ziehen, mich in die größte indigene Bevölkerung dort integrieren und die „Occupy the West“ Bewegung starten. So kann das doch nicht weitergehen. Aber zuerst hole ich mir noch einen Tee. Will noch jemand?“
Code Nummer 3: „Füllst du die Gläser auf?... Bitte!“
Wenn aber alle Geheimcodes deiner Mutter nicht helfen und du mit deinen Kommentaren das Familienglück weiterhin auf das Spiel setzt, dann muss sie taktisch klug handeln: Sie fordert dich ganz diplomatisch dazu auf, die Gäste mit frischem Schwarztee zu versorgen. Somit sind zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Der strategische Einsatz von Tee entspannt die Lage und die Mama gewinnt durch deine Abwesenheit mehr Zeit, um die Gäste von dir abzulenken.
Beispiel: Nehmen wir an, es sind gerade ziemlich religiöse Gäste da, die im idealsten Fall vor Kurzem erst die Pilgerfahrt gemacht haben.
X: „Aja, letztens auf der Demo für die Homo-Ehe…
Mama (unterbricht): „X, Füllst du bitte die Gläser?“
Code 4: „Ich bin so stolz auf dich!“
Idealerweise hast du den Nobelpreis gewonnen, die globale Armut beseitigt, oder die Welt gerettet. Manchmal reicht aber auch nur ein Einser auf eine schwierige Prüfung. Dann bekommst du den herzlichsten und innigsten Blick, der vor Liebe nur so sprudelt.
Beispiel:
Gast: „X, du hast auf deine große Prüfung einen Einser bekommen, habe ich gehört“
Mama: Blick Code 4 - „Ich bin so stolz auf dich!“
Nun, türkische soziale Konventionen gibt es viele, daher gibt es auch mindestens so viele Gelegenheiten, diese zu brechen. Die Liste der zurechtweisenden Blicke ist also lang. Hoffentlich habt ihr aber trotzdem einen kleinen aber feinen Einblick bekommen.
P.s. Mama, ich liebe dich!
Blogkategorie: